Europarecht C-702/20 - Eine staatliche Beihilfe kann nicht durch eine gerichtliche Entscheidung eingeführt werden

  • Am 5. Mai 2005 erließ Lettland ein Gesetz (das vom 8. Juni 2005 bis zum 31. Dezember 2014 in Kraft war) zur Änderung des Verfahrens für den Verkauf von überschüssigem Strom durch die Erzeuger zu einem erhöhten Tarif. Dieses Gesetz sah vor, dass die Erzeuger von Strom aus erneuerbaren Energiequellen, die ihre Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits aufgenommen hatten, insbesondere bei den Preisen für den Verkauf ihres Stroms weiterhin in den Genuss der früheren günstigeren Bedingungen kamen. Die beiden lettischen Unternehmen DOBELES HES SIA und GM SIA betreiben Wasserkraftwerke, mit denen sie Strom aus erneuerbaren Energiequellen erzeugen. Nachdem das fragliche Gesetz in Kraft getreten war, wurde es von der zur Festlegung des durchschnittlichen Stromtarifs befugten lettischen Regulierungsbehörde dahin ausgelegt, dass der am 7. Juni 2005 geltende durchschnittliche Stromverkaufstarif für diese Erzeuger eingefroren wurde. Sie aktualisierte ihn daher nicht mehr.

    Die beiden lettischen Unternehmen verlangten von der Regulierungsbehörde daraufhin „Schadensersatz“ für die Verluste, die ihnen durch das Einfrieren des Tarifs entstanden sein sollen. Die Regulierungsbehörde lehnte dies ab, während das zuständige lettische Verwaltungsgericht ihrer Klage teilweise stattgab.


    Das mit einer Kassationsbeschwerde befasste Oberste Gericht von Lettland ersucht den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 107 Abs. 1 AEUV und Art. 108 Abs. 3 AEUV, der Verordnung über De-minimis-Beihilfen1 (staatliche Beihilfen von geringer Höhe, die nicht bei der Kommission angemeldet werden müssen) und der Verordnung über besondere Vorschriften für die Anwendung von Art. 108 AEUV2.


    Der Gerichtshof entscheidet zunächst, dass bei zwei verschiedenen Fallgruppen die für das Vorliegen einer „staatlichen Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erforderliche Inanspruchnahme „staatlicher Mittel“ zu bejahen ist: Entweder handelt es sich um Gelder, die nach den nationalen Rechtsvorschriften aus einer Steuer oder anderen obligatorischen Abgaben stammen und im Einklang mit diesen Rechtsvorschriften verwaltet und verteilt werden, oder um Beträge, die stets unter staatlicher Kontrolle bleiben.


    Der Gerichtshof führt hierzu aus, dass für die Beurteilung der Frage, ob der im Ankauf von Strom zu einem erhöhten Tarif bestehende Vorteil als staatliche Beihilfe einzustufen ist, der Zeitpunkt der vollständigen Liberalisierung des Strommarkts in Lettland unerheblich ist. Die Einstufung als „staatliche Beihilfe“ hängt nämlich nicht davon ab, dass der betreffende Markt zuvor vollständig liberalisiert wurde.


    Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass sich staatliche Beihilfen als Maßnahmen der öffentlichen Hand zur Begünstigung bestimmter Unternehmen oder bestimmter Erzeugnisse in ihrem rechtlichen Charakter grundlegend von Zahlungen zum Ersatz eines Privatpersonen verursachten Schadens unterscheiden, zu denen nationale Behörden gegebenenfalls verurteilt werden.


    Schadensersatzzahlungen stellen daher keine staatlichen Beihilfen im Sinne des Unionsrechts dar. Dagegen spielt es für die Einstufung der Beträge als „staatliche Beihilfen“ keine Rolle, ob die auf ihre Zahlung gerichteten Klagen nach nationalem Recht als „Entschädigungsklagen“ oder „Schadensersatzklagen“ angesehen werden.


    Überdies stellt, sofern mit einer nationalen Regelung eine „staatliche Beihilfe“ eingeführt wird, die Zahlung eines Betrags, der in Anwendung dieser Regelung gerichtlich geltend gemacht wird, ebenfalls eine solche Beihilfe dar.


    Der Gerichtshof entscheidet, dass entgegen dem Vorbringen der Kommission eine staatliche Beihilfe nicht durch eine gerichtliche Entscheidung eingeführt werden kann. Ihre Einführung unterliegt nämlich Zweckmäßigkeitserwägungen, die dem Richteramt fremd sind.


    Sodann führt der Gerichtshof zur Anwendbarkeit des Unionsrechts auf De-minimis-Beihilfen aus, dass ihr Deminimis-Charakter – sollte es sich um staatliche Beihilfen handeln – anhand der Gesamtsumme der bereits erhaltenen Beträge und der von den Klägerinnen für den Referenzzeitraum noch geforderten Beträge zu beurteilen ist.


    Schließlich muss das nationale Gericht einen bei ihm gestellten Antrag auf Zahlung einer Beihilfe, die rechtswidrig ist, weil sie der Kommission nicht gemeldet wurde, obwohl es sich nicht um eine De-minimis-Beihilfe handelt, ablehnen. Das nationale Gericht kann jedoch einem Antrag auf Zahlung eines Betrags, der einer neuen, nicht bei der Kommission angemeldeten Beihilfe entspricht, unter dem Vorbehalt stattgeben, dass die Beihilfe zuvor von den betreffenden nationalen Behörden ordnungsgemäß bei der Kommission angemeldet und von ihr genehmigt wird oder als von ihr genehmigt gilt.


    EuGH-Urteil vom 12. Jan 2023 - C-702/20 | DOBELES HES und C-17/21 | GM - EuGH PM 02/2023


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    1 Verordnung (EU) Nr. 1407/2013 der Kommission vom 18. Dezember 2013 über die Anwendung der Artikel 107 und 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf De-minimis-Beihilfen (ABl. 2013, L 352, S. 1).

    2 Verordnung (EU) 2015/1589 des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).

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