Im Oktober 2021 entzog das Kollegium des Regionalgerichts Słupsk1 (Polen) einer Richterin dieses Gerichts etwa 70 anhängige Rechtssachen, in denen sie Berichterstatterin war. Der ohne ihre Zustimmung erlassene Beschluss dieses Kollegiums wurde ihr nicht zugestellt und enthielt keine Begründung. Der Richterin wurde auch der Zugang zu seinem Inhalt verweigert. Anschließend wurden die betreffenden Rechtssachen jeweils einem anderen Richter zugewiesen.
Der Richterin zufolge stellen diese Maßnahmen eine Form der Ahndung ihrer Versuche dar, die Rechtmäßigkeit der Ernennung eines Richters, der mit ihr einem anderen Spruchkörper angehörte, in Frage zu stellen. Außerdem gehe es darum, die Aufhebung eines erstinstanzlichen Urteils eines Gerichts zu ahnden, das nicht den Anforderungen des Unionsrechts entspreche2. Durch die Entziehung der Zuständigkeit solle künftigen Versuchen in diesem Sinne vorgebeugt werden.
In Bezug auf zwei der ihr entzogenen Rechtssachen hat sich diese Richterin an den Gerichtshof gewandt3. Sie möchte wissen, ob sie angesichts des Unionsrechts4 trotz des oben genannten Beschlusses und der späteren Neuzuweisung dieser Rechtssachen an einen anderen Richter5 weiterhin berechtigt ist, die Prüfung dieser Rechtssachen fortzusetzen.
Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Grundsatz der Unabhängigkeit der Richter bedeutet, dass sie vor unzulässigem Eingriff, der ihre Entscheidungen beeinflussen könnte, geschützt sein müssen, was auch für unzulässige Einflussnahmen innerhalb des betreffenden Gerichts gilt. Der Umstand, dass ein Kollegium eines Gerichts einem Richter seine Rechtssachen entziehen kann, ohne dabei objektive und genaue Kriterien einhalten zu müssen und ohne dies begründen zu müssen, kann die Unabhängigkeit der Richter gefährden. Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass diese Entziehung willkürlich erfolgt oder eine verdeckte Disziplinarstrafe darstellt.
Das nationale Gericht ist – unter dem Vorbehalt, dass es prüft und bestätigt, dass die Entziehung unter Verstoß gegen das Unionsrecht erfolgt ist – verpflichtet, die rechtswidrigen Folgen der Entziehung zu beheben. Somit sind der Beschluss des Kollegiums und die nachfolgenden Handlungen unangewendet zu lassen und kann die betreffende Richterin weiterhin in den ihr vor der Entziehung zugewiesenen Rechtssachen tätig sein.
EuGH-Urteil des Gerichtshofs in den verbundenen Rechtssachen C-647/21 | D. K. und C-648/21 | M.C. und M.F. (Entbindung eines Richters von seinen Verpflichtungen) | 06. März 2025 | EuGH PM 28/2025
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1 Es handelt sich um ein Kollegialorgan, das aus dem Präsidenten dieses Gerichts und den Präsidenten der fünf Rayongerichte in seinem Zuständigkeitsbereich besteht. Die Befugnis, Richter auf die Posten des Präsidenten eines Gerichts zu berufen, hat der Justizminister, der auch Generalstaatsanwalt ist.
2 Die Vorbehalte der Richterin kamen daher, dass die Ernennung dieser anderen Richter auf einem Beschluss des Landesjustizrats beruhte, dessen im Jahr 2017 geänderte Zusammensetzung keine Garantie für seine Unabhängigkeit gegenüber der Legislative und der Exekutive mehr biete, wodurch seine Fähigkeit beeinträchtigt werde, unabhängige und unparteiische Kandidaten für Richterstellen vorzuschlagen.
3 Als die Richterin sich an den Gerichtshof wandte, war sie mit diesen Rechtssachen noch befasst. Nachdem ihr die Rechtssachen entzogen worden waren, wurden die Fragen nicht zurückgenommen.
4 Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.
5 Zusätzlich zur Entziehung ihrer Rechtssachen wurde die betreffende Richterin von der Berufungsabteilung des Regionalgerichts Słupsk in die erstinstanzliche Abteilung dieses Gerichts versetzt. Obwohl diese Versetzung an sich nicht Gegenstand der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen ist, stellt sie ein bedeutendes Sachverhaltselement dar, zumal sie unmittelbar nach der Entziehung der Rechtssachen erfolgte.