C-483/20 - Familienverband – bereits gewährter Schutz

  • Ein Mitgliedstaat kann von seiner Befugnis Gebrauch machen, einen Antrag auf internationalen Schutz deshalb für unzulässig zu erklären, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist.

    Es muss jedoch, wenn dieser Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands Sorge getragen werden.

    Nachdem der Kläger 2015 in Österreich als Flüchtling anerkannt worden war, reiste er Anfang des Jahres 2016 nach Belgien zu seinen beiden Töchtern, von denen eine minderjährig ist und denen dort beiden im Dezember 2016 subsidiärer Schutz zuerkannt wurde. 2018 stellte der Kläger in Belgien einen Antrag auf internationalen Schutz, ohne dort über ein Aufenthaltsrecht zu verfügen.


    Dieser Antrag wurde aufgrund der belgischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Verfahrensrichtlinie1 mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass dem Kläger bereits von einem anderen Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei2. Der Kläger focht diesen abschlägigen Bescheid vor den belgischen Gerichten an und machte geltend, das Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 7 GRCh (der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) (im Folgenden: Charta) und die in deren Art. 24 Abs. 2 GRCh vorgesehene Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls hinderten den belgischen Staat daran, von seiner Befugnis Gebrauch zu machen, den klägerischen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu erklären.


    Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) beschlossen, den Gerichtshof nach etwaigen Ausnahmen von dieser Befugnis zu befragen.


    Der Gerichtshof (Große Kammer) hat entschieden, dass die Verfahrensrichtlinie3 im Licht von Art. 7 GRCh und 24 Abs. 2 GRCh (der Charta) einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, von dieser Befugnis deshalb Gebrauch zu machen, weil dem Antragsteller von einem anderen Mitgliedstaat bereits die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, wenn dieser Antragsteller der Vater eines minderjährigen, unbegleiteten Kindes ist, dem in dem erstgenannten Mitgliedstaat subsidiärer Schutz gewährt worden ist, wobei jedoch die Anwendung von Art. 23 Abs. 2 der Anerkennungsrichtlinie4 in Bezug auf die Aufrechterhaltung des Familienverbands unberührt bleibt.


    Würdigung durch den Gerichtshof


    Der Gerichtshof stellt insoweit klar, dass die Mitgliedstaaten nicht verpflichtet sind, zu prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Anerkennungsrichtlinie zuzuerkennen ist, wenn dieser Schutz bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährleistet ist. Unter diesen Umständen müssen sie nur dann davon absehen, von der in der Verfahrensrichtlinie vorgesehenen Befugnis5 Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz für unzulässig zu erklären, wenn der Antragsteller wegen systemischer oder allgemeiner oder aber bestimmte Personengruppen betreffender Schwachstellen in diesem anderen Mitgliedstaat einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, aufgrund der Lebensumstände, die ihn dort als international Schutzberechtigten erwarten würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh (der Charta) zu erfahren.


    Angesichts der Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hindert ein nicht zu einer Verletzung von Art. 4 der Charta führender Verstoß gegen eine Vorschrift des Unionsrechts, die Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ein materielles Recht verleiht, die Mitgliedstaaten nämlich nicht daran, diese Befugnis auszuüben. Im Gegensatz zu dem Recht auf Schutz vor jeder unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung haben die durch die Art. 7 GRCh und 24 GRCh (der Charta) garantierten Rechte keinen absoluten Charakter und können daher unter den in der Charta genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden6.


    Ferner führt der Gerichtshof aus, dass die Anerkennungsrichtlinie7 den Mitgliedstaaten aufgibt, für die Aufrechterhaltung des Familienverbands Sorge zu tragen, indem sie für die Familienmitglieder der Person, die internationalen Schutz genießt, eine Reihe von Leistungen einführt. Die Gewährung dieser Leistungen8, darunter u. a. die Gewährung eines Aufenthaltsrechts, ist jedoch an drei Voraussetzungen gebunden, die sich erstens auf die Eigenschaft als Familienangehöriger im Sinne dieser Richtlinie9, zweitens den Umstand, dass für diesen Angehörigen selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes nicht erfüllt sind, und drittens auf die Vereinbarkeit mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen beziehen.


    Zunächst schließt der Umstand, dass ein Elternteil und sein minderjähriges Kind getrennte Migrationswege zurückgelegt hatten, bevor sie in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind internationalen Schutz genießt, wieder zueinander fanden, nicht aus, dass dieser Elternteil als Familienangehöriger des Schutzberechtigten angesehen wird, sofern er sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten hat, bevor über den Antrag seines Kindes auf internationalen Schutz entschieden wurde.


    Sodann erfüllt ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf internationalen Schutz unzulässig ist und daher in Anbetracht der Flüchtlingseigenschaft, die er in einem anderen Mitgliedstaat besitzt, in demjenigen Mitgliedstaat abgelehnt worden ist, in dem sein minderjähriges Kind internationalen Schutz genießt, selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes im zweitgenannten Mitgliedstaat.


    Was schließlich die Vereinbarkeit der Gewährung der in der Anerkennungsrichtlinie vorgesehenen Leistungen mit der Rechtsstellung des betreffenden Drittstaatsangehörigen anbelangt, ist zu prüfen, ob er in dem Mitgliedstaat, der seinem Familienangehörigen internationalen Schutz gewährt hat, nicht bereits Anspruch auf eine bessere Behandlung hat als die, die sich aus diesen Leistungen ergibt. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint dies hier nicht der Fall zu sein, da die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem Mitgliedstaat demjenigen, der diesen internationalen Schutz genießt, in einem anderen Mitgliedstaat keine bessere Behandlung verschafft als diejenige, die sich aus solchen Leistungen in diesem anderen Mitgliedstaat ergibt.


    EuGH-Urteil vom 22. Febr 2022; C-483/20; EuGH PM 30/2022


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    1) Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) (im Folgenden: Verfahrensrichtlinie).

    2) Gemäß Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz unter anderem dann als unzulässig betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat.

    3) Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie.

    4) Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für

    einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9) (im Folgenden: Anerkennungsrichtlinie)
    5) Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie.

    6) Art. 52 Abs. 1 GRCh (der Charta).

    7) Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Anerkennungsrichtlinie.

    8) Diese Leistungen sind in den Art. 24 bis 35 der Anerkennungsrichtlinie vorgesehen.

    9) Art. 2 Buchst. j der Anerkennungsrichtlinie.

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