Verwaltungsrecht 3 B 1936/24 SN - VG Schwerin: Kein Masernschutznachweis eines nicht in einer Schule betreuten schulpflichtigen Schülers Neu

  • Das Gesundheitsamt kann von Eltern eines gegenwärtig nicht in einer Schule betreuten schulpflichtigen Schülers keinen Masernschutznachweis über diesen anfordern. (Leitsatz des VG Schwerin, Beschluss vom 29. Juli 2024)

    Tenor


    Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 24. November 2023 wird angeordnet.


    Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.


    Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.


    Gründe


    I.
    1. Die Beteiligten streiten um die Vollziehbarkeit einer zwangsgeldbewehrten Aufforderung zur Vorlage eines Nachweises im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG (des Infektionsschutzgesetzes), betreffend den Sohn der Antragstellerin.
    2.
    Dieser, der am 7. Mai 2013 geborene und bei seiner Mutter im Landkreis E. wohnende D. A., wurde zum Schuljahr 2023/24 in der Regionalen Schule „F.“ im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners zum Schulbesuch in der 5. Klasse angemeldet.
    3.
    Diesen nahm er nach einer vorherigen Krankmeldung am 25. September 2023 auf, besuchte die Schule aber nur kurzzeitig, nach Angaben der Antragstellerin wegen eines „Vorfalls mit Mitschülern“ nicht mehr seit dem 2. Oktober 2023. Die Antragstellerin versichert eidesstattlich, sie habe ihn am 17. Oktober 2023 schriftlich von der Schule abgemeldet; abgesehen von einer einwöchigen Hospitation in der „G-Schule“ in H-Stadt werde er zuhause von der Antragstellerin unterrichtet.
    4.
    Die Regionalschule betrachtet D. noch als ihren Schüler, der seiner Schulpflicht nicht nachkomme. Im Oktober 2023 wurde gegen die Antragstellerin wegen der Nichtbefolgung der Schulpflicht durch D. ein Bußgeld verhängt. Nach einem Telefonvermerk vom 27. Juni 2024 erfolgte kein weiterer Schulbesuch in der Regionalschule mehr; dies sollte laut der Antragstellerin bis zum Schuljahresende so fortdauern.
    5.
    Nach schriftlicher Anhörung der Antragstellerin unter dem 25. September 2023, worauf die Antragstellerin die Zuständigkeit des Antragsgegners problematisierte, erließ dieser am 24. November 2023 den streitgegenständlichen Bescheid, womit er die Antragstellerin unter Fristsetzung bis zum 10. Januar 2024 aufforderte, für D. einen — nachfolgend näher definierten — anerkannten Nachweis über einen ausreichenden Masernschutz im Sinne des § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG vorzulegen, und ihr für den Fall nicht fristgerechter Befolgung der Aufforderung ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000 € androhte. Den anwaltlichen Widerspruch der Antragstellerin vom 5. Dezember 2023 wies er mit Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 2024 als unbegründet zurück, wobei er auch die bei Widerspruchseinlegung beantragte Aussetzung der Vollziehung ablehnte.
    6.
    Am 23. Juli 2024 hat die Antragstellerin gegen den Bescheid hier Anfechtungsklage erhoben (Az.: 3 A 1935/24 SN), über die noch nicht entschieden ist.
    7. Gleichzeitig hat sich die Antragstellerin mit dem vorliegenden Eilantrag an das Gericht gewandt. Sie macht geltend, dass die Voraussetzungen für den angegriffenen Verwaltungsakt nicht vorlägen, weil D. nicht in einer Einrichtung betreut werde. Sie beantragt in der Antragsschrift,
    8. die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Beklagten 24.11.2024 mit dem Az. … in der Gestalt des
    Widerspruchsbescheides vom 17.07.2024 wiederherzustellen.
    9.
    Der Antragsgegner beantragt schriftsätzlich,
    10. den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abzulehnen,
    11. und nimmt auf die Begründungen seiner Bescheide Bezug. Die rechtswidrige Nichtbefolgung der Schulpflicht, welche unter Umständen zu der Entziehung des Sorgerechts führen könne, dürfe unter keinen Umständen für die Ablehnung der gesetzlichen Nachweispflicht streiten, so dass eine Interessenabwägung gegen die Antragstellerin ausfalle.
    12. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, sowie auf die vom Antragsgegner in elektronischer Form übermittelten Verwaltungsvorgänge (eine Datei) verwiesen, ferner auf die Gerichtsakten des Klageverfahrens 3 A 1935/ 24 SN.
    II.
    13. Der Eilantrag ist zulässig und begründet.
    14. Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO (der Verwaltungsgerichtsordnung) kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung eines Anfechtungsrechtsbehelfs des Bescheidsbetroffenen anordnen, soweit jene im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen ausblieb. Träger einer vorliegend anzuordnenden aufschiebenden Wirkung im Sinne von § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist und bleibt mit der Wirkungsdauer des § 80b Abs. 1 Satz 1 VwGO der fristgerechte und auch sonst zulässige Widerspruch der Antragstellerin (vgl. das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Oktober 1987 – 1 C 19.85 –, amtliche Entscheidungssammlung BVerwGE Bd. 78, S. 192 [208 ff.]), dessen Anliegen die Antragstellerin mit der fristgerecht erhobenen Klage weiterverfolgt. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs trat gemäß § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG sowie, hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung, § 99 Abs. 1 Satz 2 SOG M-V (des Sicherheits- und Ordnungsgesetzes) nicht ein (sofern nicht mit Blick auf die Beschlüsse des Oberverwaltungsgerichts für das Land Mecklenburg-Vorpommern vom 16. Dezember 2013 – 3 M 224/13 –, Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland 2014, S. 182 [184], und vom 3. Dezember 2007 – 3 O 106/07 –, juris Rdnr. 3, wonach eine mit der Grundverfügung verbundene Zwangsgeldandrohung hinsichtlich ihrer Vollziehbarkeit deren Schicksal teilt, in beiden Fällen nur auf die erstgenannte Vorschrift abzustellen ist). Das Ausbleiben einer aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen „eine vom Gesundheitsamt nach [§ 20 Abs. 12] Satz 1 [IfSG] erlassene Anordnung“ wie die streitgegenständliche ordnet § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG seit der Änderung durch Art. 1 Nr. 12 Buchst. b Doppelbuchst. bb des Gesetzes vom 16. September 2022 (BGBl. I S. 1454) ausdrücklich an. Die Kammer legt das Eilrechtsschutzbegehren der Antragstellerin daher trotz anwaltlicher Formulierung des Antrags in der tenorierten Weise aus.
    15. Grundlage der gerichtlichen Eilentscheidung in der Sache ist eine Abwägung zwischen den Interessen der bescheidsbetroffenen Antragstellerin, für die Dauer des Verfahrens über ihren Rechtsbehelf in der Hauptsache das Handlungsgebot des Bescheids nicht zur Vermeidung von Zwangsmaßnahmen befolgen zu müssen, gegen die für die Vollziehung des Bescheids sprechenden öffentlichen Interessen; diese Abwägung geht zu ihren Gunsten aus. Bei aus Rechtsgründen überwiegenden Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache leitet die Interessenabwägung, die allgemein für die Ermessensentscheidung der Kammer über den Fortbestand einer sofortigen Vollziehung maßgeblich ist, nämlich maßgeblich der Gedanke, dass ein anerkennenswertes öffentliches Interesse an der einstweiligen Durchsetzung eines ersichtlich rechtswidrigen Verwaltungsakts nicht gegenüber dem Aufschubsinteresse des Bescheidsbetroffenen überwiegen kann, weshalb dem Eilantrag stattzugeben ist. Dagegen wird das Individualinteresse bei einer erkennbaren Erfolglosigkeit des Rechtsbehelfs gegen einen rechtmäßigen Verwaltungsakt in der Regel zurückstehen und auch der Eilantrag erfolglos bleiben. Bei einer unklaren Rechtslage ergeht die Entscheidung nach einzelfallbezogener Abwägung der Folgen eines zu Unrecht beschleunigten gegen die eines zu Unrecht aufgeschobenen Vollzugs. Vorliegend ist zudem die für einen grundsätzlichen Vorrang des Vollzugsinteresses sprechende gesetzgeberische Wertung in § 20 Abs. 12 Satz 7 IfSG zu beachten, weshalb es regelmäßig besonderer Umstände bedarf, um eine hiervon abweichende Entscheidung zu rechtfertigen (vgl. den Beschluss des Bayerischen VG Regensburg vom 20. Dezember 2023 – RN 5 S 23.2196 –, juris Rdnr. 27 m. w. Nachw.). Hier liegt indessen bereits ein Fall der erstgenannten Art vor, da die Klage der Antragstellerin sich nach ordnungsgemäßem Vorverfahren mit hoher Erfolgsaussicht gegen einen Verwaltungsakt richtet, der sich der Kammer bei der im Eilverfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung als mit großer Wahrscheinlichkeit rechtswidrig darstellt.
    16. Der Antragsgegner ist zwar nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 des Infektionsschutzausführungsgesetzes für die streitgegenständlichen Aufgaben des Gesundheitsamts sachlich und, soweit die Regionale Schule „F.“ oder andere in der C-Stadt gelegene Schulen im Sinne von § 33 Nr. 3 IfSG betroffen sind, gemäß § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG in Verbindung mit Abs. 13 Satz 1 IfSG für die Entgegennahme und für die Anforderung von durch Personensorgeberechtigte vorzulegenden Nachweisen im Sinne von § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG auch örtlich zuständig, weil sich diese Einrichtungen in seinem Gesundheitsamts-Bezirk befinden.
    17. Seine Ermächtigung, als Gesundheitsamt derlei Nachweise nach § 20 Abs. 12 Satz 1 IfSG in Verbindung mit Abs. 9 Satz 1 IfSG anzufordern, beschränkt sich aber, soweit vorliegend von Interesse, im Sinne der Nummer 1 auf Personen, die „in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 1 bis 3“ — hier: Nr. 3 — „betreut werden“. Eine derartige — gegenwärtige — Betreuung von D. in einer Schule findet jedoch unstreitig seit geraumer Zeit nicht statt. Es erscheint zudem gegenwärtig ebenso wie schon bei Erlass der klagebefangenen Bescheide unklar, ob eine Beschulung von D. in C-Stadt überhaupt noch zu erwarten ist. Seiner Schulpflicht könnte er auch in einer örtlich zuständigen Regionalen Schule im Wohnsitzlandkreis E. nachkommen oder, da die Antragstellerin offenbar auch überregional nach Beschulungsmöglichkeiten Ausschau hielt, auch in einem anderen Landkreis oder der anderen kreisfreien Stadt.
    18. Auch wenn § 20 Abs. 9 Satz 1 IfSG den Kreis der Personen, für die Masernschutznachweise vorzulegen sind, u. a. als „Personen, die in Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer […] 3 betreut […] werden sollen,“ definiert, worunter man vielleicht mit dem Antragsgegner den Fall einer an der zuletzt besuchten Schule weiter zu erfüllenden Schulpflicht subsumieren könnte, ändert dies nichts an der oben dargestellten Beschränkung der Ermächtigung, die Nachweisvorlage auch behördlich einzufordern. Diese Ermächtigung ist wegen der unterschiedlichen gesetzgeberischen Wortwahl vielmehr auch unter systematischen Gesichtspunkten abweichend von der Definition der Nachweispflicht auszulegen; denn sowohl im Absatz 9 Satz 1 als auch im Absatz 12 Satz 1 sind die Kreise der betroffenen Personen jeweils durch ausführliche, aber auch abschließende Aufzählungen definiert, die von Gesichtspunkten des Schulrechts einzelner Bundesländer nicht beeinflusst oder überlagert werden.
    19. Dass bei einer solchen Rechtsanwendung, gerade in Fällen einer zu befürchtenden Schulverweigerung oder eines häufigen Schulwechsels, die gesetzgeberischen Interessen an einer möglichst umfassenden Masernimmunisierung der Schülerschaft in einer vielleicht nicht gewollten Weise hintanstehen müssen, kann kein Grund für eine Auslegung von § 20 Abs. 12 Satz 1 Nr. 1 IfSG entgegen dem Wortlaut sein; zutreffend bemerkt die Antragstellerin, dass im Falle fehlenden Schulbesuchs vom der Schule fernbleibenden Schüler auch ein geringes infektionsschutzrechtlich beachtliches Risiko zum Nachteil der in Schulen betreuten Personen besteht.
    20. Gerade angesichts der gegenwärtigen Schulsommerferien und deren Fortdauer bis zum Ende des Monats August, die möglicherweise eine Klärung der weiteren Beschulung von D. ermöglicht, sieht die Kammer auch bei der vom Antragsgegner angeregten reinen Folgenabwägung keinen Grund für eine andere Entscheidung.
    21. Mangels rechtmäßiger Grundverfügung kann auch die Vollziehbarkeit der zu deren Durchsetzung ergangenen Zwangsgeldandrohung keinen Bestand haben.
    22. Die Kostenentscheidung zum Nachteil des hiernach unterliegenden Antragsgegners ergeht nach § 154 Abs. 1 VwGO.
    23. Die Wertfestsetzung für die Gerichtsgebühren erfolgt gemäß § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG, § 52 Abs. 1 und 8 GKG sowie § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG (des Gerichtskostengesetzes) und bei Orientierung an Nr. 1.5 des sog. Streitwertkatalogs mit Blick auf die lediglich vorübergehende Wirkung einer Eilentscheidung wie der erstrebten in hälftiger Höhe des sog. Auffangstreitwerts (s. a. den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes vom 21. September 2023 – 20 CS 23.1423 –, juris Rdnr. 54).
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