Sozialrecht 1 BvL 16/95 - Zur Gleichbehandlung unterschiedlicher Familienformen im Kindergeldrecht in den Jahren 1994 und 1995

  • Die in den Jahren 1994 und 1995 geltende Regelung des Bundeskindergeldgesetzes, nach der nur miteinander verheiratete und zusammenlebende Eltern bestimmen durften, wem von ihnen Kindergeld zu gewähren war, war mit dem allgemeinen Gleichheitssatz unvereinbar. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen dreier Vorlageverfahren am 29. Oktober 2002 beschlossen. Dem Gesetzgeber wurde aufgegeben, die verfassungswidrige Norm bis zum 1. Januar 2004 durch eine neue Regelung zu ersetzen. Andernfalls ist stattdessen auf noch nicht abgeschlossene Verfahren das bis zum 31. Dezember 1993 geltende Recht anzuwenden.

    1 1. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

    Das Bundeskindergeldgesetz (BKGG) regelt, dass Kindergeld jeweils nur einem der Anspruchsberechtigten gewährt wird. Für das Verhältnis zwischen den Eltern galt vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Dezember 1995 die aus der Anlage zu entnehmende Regelung des § 3 Abs. 3 Satz 1 BKGG.


    Diese beseitigte für nicht miteinander verheiratete Eltern und verheiratete, aber getrennt lebende Eltern , die bis zum 31. Dezember 1993 allen Eltern offenstehende Möglichkeit, den Kindergeldberechtigten zu bestimmen, hielt sie aber für verheiratet zusammenlebende Eltern weiterhin aufrecht. Das Interesse an der Bestimmung des Anspruchsberechtigten erklärt sich vor dem Hintergrund des so genannten Zählkindervorteils, der die Höhe des Kindergelds beeinflussen konnte: Die Höhe des - mit höherer Kinderzahl überproportional ansteigenden - Kindergelds war nach der Ordnungszahl des Kindes gestaffelt. Bei deren Berechnung waren alle Kinder des Anspruchsberechtigten als Zählkinder mitzuzählen, auch wenn eine andere berechtigte Person für ein solches Kind vorrangig Kindergeld bezog. Vorteilhaft war es also, den Elternteil mit den meisten so genannten Zählkindern zum Anspruchsberechtigten zu bestimmen.


    Die Kläger der drei Ausgangsverfahren sind Väter mit mehreren Kindern, deren Kindergeldbewilligungen von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit aufgrund der in den Jahren 1994 und 1995 geltenden Neuregelung aufgehoben wurden und deren Familien dadurch den Zählkindervorteil verloren. In zwei der Verfahren hat das Sozialgericht Magdeburg, im dritten Verfahren das Bundessozialgericht (BSG) das Verfahren ausgesetzt. Sie legten dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob die für 1994 und 1995 gültige Regelung des BKGG, die zwischen zusammenlebenden Ehepaaren einerseits und getrennt lebenden Ehepaaren sowie nichtehelichen Lebensgemeinschaften andererseits differenzierte, mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Nach Auffassung der vorlegenden Gerichte ist dies zu verneinen.

    2 2. Zur Begründung heißt es in der Entscheidung des Senats:

    § 3 Abs. 3 Satz 1 BKGG in der in den Jahren 1994 und 1995 gültigen Fassung war mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz unvereinbar.


    Der Gesetzgeber verfügt im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit für die Abgrenzung der begünstigten Personenkreise über einen Gestaltungsspielraum. Diesen begrenzt der allgemeine Gleichheitssatz aber um so mehr, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann. Hier wurden unterschiedliche Familienformen ungleich behandelt. Zu den unter dem Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG stehenden Familien gehören auch nicht verheiratete Eltern mit ihren Kindern. Gründe, die die unterschiedliche Behandlung der Elterngruppen durch den Kindergeldgesetzgeber bei der Erlangung des Zählkindervorteils in den Jahren 1994 und 1995 zu rechtfertigen vermögen, sind nicht ersichtlich.


    Die Zielsetzung der angegriffenen Regelung, durch Begrenzung des Zählkindervorteils Einsparungen im Sozialbereich vorzunehmen, war allerdings im Ansatz verfassungsgemäß. Aufgrund der Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist der Staat zwar allgemein zu einem Familienlastenausgleich verpflichtet. In welchem Umfang und in welcher Weise ein solcher sozialer Ausgleich vorzunehmen ist, ergibt sich daraus jedoch nicht. Lässt der Gesetzgeber das Kindergeld mit höherer Kinderzahl progressiv ansteigen, kann er diese Wirkung auf die Fälle beschränken, in denen die älteren Kinder tatsächlich überwiegend unterhalten werden, im Haushalt des Berechtigten leben oder der Berechtigte die Personensorge für sie hat.


    Der Gesetzgeber wollte mit der angegriffenen Regelung den Zählkindervorteil ausschließen, wenn die älteren Kinder weder überwiegend unterhalten wurden noch Personensorge für sie bestand. Die Unterscheidung nach Familienformen eignet sich hierfür jedoch nicht. Denn es fehlt an einem Zusammenhang zwischen der Beziehung eines Kindergeldberechtigten zu seinen älteren Kindern aus anderen Verbindungen einerseits und der Form seines Zusammenlebens mit Mutter oder Vater des Kindes, für das das Kindergeld gezahlt wird, andererseits. Für verheiratet zusammenlebende Eltern blieb der Zählkindervorteil auch dort erhalten, wo der Gesetzgeber diesen gerade abbauen wollte, wenn nämlich der Empfänger des erhöhten Kindergelds für die Zählkinder weder überwiegend Unterhalt zahlte noch die Personensorge inne hatte. Umgekehrt ging der Zählkindervorteil anderen Eltern selbst dann verloren, wenn Kinder aus einer früheren Verbindung in den Haushalt aufgenommen waren und Personensorge für sie bestand. Diese Ungleichbehandlung lässt sich weder mit der Pauschalierungsbefugnis des Gesetzgebers bei Massenerscheinungen noch durch den besonderen Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertigen.


    BVerfG-Beschluss vom 29. Oktober 2002 - BVerfG PM 110/2002

    1 BvL 16/95

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