Sozialrecht B 9 SB 1/20 R - Begleitung durch Vertrauensperson bei Untersuchung durch medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig

  • Grundsätzlich steht es dem zu Begutachtenden frei, zu einer Untersuchung durch einen medizinischen Sachverständigen eine Vertrauensperson mitzunehmen. Der Ausschluss der Vertrauensperson ist aber möglich, wenn er im Einzelfall zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege – insbesondere mit Blick auf eine unverfälschte Beweiserhebung – erforderlich ist. Dies hat der 9. Senat des Bundessozialgerichts am 27. Oktober 2022 entschieden (Aktenzeichen B 9 SB 1/20 R).

    Der Kläger wendete sich gegen die Herabsetzung des bei ihm ursprünglich festgestellten Grades der Behinderung von 50 auf 30. Die im Klageverfahren mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragten Orthopäden hatten die Begutachtung des Klägers abgelehnt, weil dieser die Anwesenheit seiner Tochter oder seines Sohnes als Vertrauensperson während der Anamnese und der Untersuchung verlangt hatte. Daraufhin wurde dem Kläger Beweisvereitelung vorgeworfen. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass es dem zu Begutachtenden im Grundsatz frei steht, eine Vertrauensperson zu einer Untersuchung mitzunehmen. Das Gericht kann jedoch den Ausschluss der Vertrauensperson anordnen, wenn ihre Anwesenheit im Einzelfall eine geordnete, effektive oder unverfälschte Beweiserhebung erschwert oder verhindert. Differenzierungen zum Beispiel nach der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson, dem medizinischen Fachgebiet oder unterschiedlichen Phasen der Begutachtung sind in Betracht zu ziehen.


    BSG-Urteil vom 27. Okt 2022 - B 9 SB 1/20 R - BSG PM 37/2022


    Aus dem Fall:


    Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB)


    Im Klageverfahren gegen den Herabsetzungsbescheid hat das SG einen Orthopäden mit einem Sachverständigengutachten beauftragt. Bei der gutachterlichen Untersuchung hat der Kläger auf der Anwesenheit seiner Tochter bestanden. Daraufhin hat der Sachverständige seine Entpflichtung beantragt, weil die Anwesenheit Dritter in gutachtlichen Untersuchungen bei ihm prinzipiell auf erhebliche Bedenken stoße. Die Erhebung objektiver Befunde werde dadurch erschwert. Der daraufhin beauftragte weitere orthopädische Sachverständige lehnte die Untersuchung des Klägers ebenfalls ab, weil durch die vom Kläger verlangte Anwesenheit seines Sohnes eine Zeugenungleichheit entstehe. Nachdem der Kläger seinerseits eine Begutachtung ohne Anwesenheit einer Begleitperson abgelehnt hat, hat das SG die Beweisanordnung aufgehoben und die Klage abgewiesen.


    Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Auf der vorliegenden Erkenntnisgrundlage habe der Beklagte den Gesamt-GdB nicht mit mehr als 30 feststellen können. Die Zweifel, die aufgrund der bislang nicht ausreichenden medizinischen Ermittlungen verblieben, gingen im Wege einer Beweislastumkehr zulasten des Klägers, weil er die weitere Aufklärung des Sachverhalts vereitelt habe. Er habe keinen Anspruch auf die Anwesenheit seiner Tochter oder seines Sohnes als Vertrauensperson während der medizinischen Untersuchung. Die Gestaltung der Untersuchung unterliege der Fachkompetenz des Sachverständigen. Der vom Kläger gestellte Antrag auf Begutachtung durch einen Arzt seiner Wahl sei wegen der Vereitelung der von Amts wegen in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten rechtsmissbräuchlich.


    Mit seiner Revision macht der Kläger eine fehlende angemessene medizinische Sachaufklärung geltend. Aus Gründen des fairen Verfahrens müsse es dem zu Begutachtenden zumindest bei orthopädisch-chirurgischen Untersuchungen erlaubt sein, eine Person seines Vertrauens hinzuzuziehen.


    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Osnabrück - S 9 SB 124/17, 17.12.2018

    Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 13 SB 4/19, 11.12.2019


    Terminbericht:


    Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG.


    Das Urteil des LSG beruht auf einer Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes. Danach muss das Gericht die in Betracht kommenden Erkenntnisquellen ausschöpfen, sofern es - wie hier - den Sachverhalt für nicht ausreichend aufgeklärt hält.


    Ob das LSG zu Recht von einer Begutachtung des Klägers abgesehen hat, weil dieser die Anwesenheit einer Vertrauensperson verlangt hat, kann anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilt werden. Im Rahmen ihrer Mitwirkungslast sind Beteiligte gehalten, sich im gerichtlichen Verfahren ärztlich begutachten zu lassen, soweit dies erforderlich und ihnen zumutbar ist.


    Grundsätzlich steht es dem Betroffenen dabei frei, eine Vertrauensperson zu einer gutachterlichen Untersuchung mitzunehmen. Dies folgt für prozessbevollmächtigte erwachsene Familienangehörige aus § 73 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 SGG und für sonstige nahestehende Personen als Beistand aus § 73 Abs. 7 S. 3 SGG. Deren Befugnis umfasst auch die Begleitung zu einer vom Richter angeordneten Begutachtung durch einen Sachverständigen, der als "Gehilfe" des Gerichts tätig wird. Darin verwirklicht sich der durch GG und EMRK garantierte Anspruch auf ein faires Verfahren. Zugleich wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Anordnung einer medizinischen Begutachtung als Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die allgemeine Handlungsfreiheit dem Verhältnismäßigkeitsgebot unterliegt.


    Das Gericht kann jedoch den Ausschluss der Vertrauensperson bei der Begutachtung ohne Verletzung der genannten Grundsätze anordnen, wenn dies zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen, wirksamen Rechtspflege - insbesondere mit Blick auf eine unverfälschte Beweiserhebung - erforderlich ist. Dabei sind die vom Sachverständigen im Einzelfall gegen eine Begleitung angeführten fachlichen Gründe zu prüfen. Differenzierungen zB nach der Beziehung des Beteiligten zur Begleitperson, dem medizinischen Fachgebiet oder unterschiedlichen Phasen der Begutachtung sind in Betracht zu ziehen.


    Unabhängig davon hat das LSG weitere Erkenntnisquellen - zB ein Gutachten nach Aktenlage - nicht ausgeschöpft. Zudem ist ein Antrag des Klägers nach § 109 SGG nicht allein deshalb rechtsmissbräuchlich, weil eine Begutachtung von Amts wegen nicht zustande gekommen ist.

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