Die maßgebliche Versorgungsmedizin-Verordnung schreibt in ihren Versorgungsmedizinischen Grundsätzen zwingend den objektiven Nachweis eines organischen (morphologischen) Befunds für vom behinderten Menschen angegebene Sehstörungen vor, wenn damit ein Grad der Behinderung nach dem Funktionssystem des Auges begründet werden soll. Eine jahrelang gelebte Sehstörung ohne nachgewiesenen organischen Befund genügt demgegenüber nicht. Das Bundessozialgericht hat das Urteil des Landessozialgerichts deshalb aufgehoben und den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückverwiesen. Das Gericht muss jetzt prüfen, ob sich die Sehstörungen der Klägerin psychisch-neurologisch erklären lassen oder ob sich doch noch ein morphologischer Befund nachweisen lässt.
BSG-Urteil vom 27. Okt 2022 - B 9 SB 4/21 R - BSG PM 38/2022
Aus dem Fall:
Die Klägerin begehrt einen höheren GdB als 40 für ihre Sehstörungen.
Die 1997 geborene Klägerin erhielt in ihrer Schulzeit wegen zunehmender Sehstörungen unter anderem eine sonderpädagogische Förderung. Neben der Schule betrieb sie als Leistungssport Turmspringen. Nach einer Ausbildung im Berufsförderungswerk arbeitet sie inzwischen in Vollzeit als Physiotherapeutin für schwerstmehrfachbehinderte Kinder. Die Klägerin erhielt Blindenstöcke und ein Mobilitätstraining verordnet.
Die Beklagte hatte bei ihr zuletzt einen GdB von 40 festgestellt. Ihre Klage auf Feststellung eines höheren GdB von 70 ab September 2016 hatte vor dem SG und dem LSG Erfolg. Das LSG war nach Beweisaufnahme der Ansicht, das Sehvermögen der Klägerin sei erheblich herabgesetzt. Das Krankheitsbild ziehe sich konsistent und widerspruchsfrei durch ihre Biografie, obwohl die bislang erhobenen Befunde kein morphologisches (organisches) Korrelat für die angegebenen Einschränkungen, sondern teilweise sogar Anhaltspunkte für ein besseres Sehvermögen erbracht hätten. Entweder bestünden die Störungen organisch, oder der Beschwerdekomplex werde von der Klägerin so erlebt. Jedenfalls sei der GdB analog zu den Beeinträchtigungen des Funktionssystems Sehorgan zu bewerten.
Mit ihrer Revision wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung zur Feststellung eines höheren GdB als 40. Solange die Ursache für die von der Klägerin angegebenen Sehstörungen unklar und eine Simulation möglich bleibe, fehle der erforderliche Nachweis für den begehrten GdB. Das LSG habe selbst Tatsachen aufgezeigt, die gegen eine Beeinträchtigung der Sehfunktion im behaupteten Ausmaß sprächen. Zudem verlange die Versorgungsmedizin-Verordnung bei der Beurteilung von Sehstörungen zwingend einen morphologischen Befund und die Zuordnung zu einem der von der Verordnung genannten Funktionssysteme.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Aachen - S 18 SB 460/16, 24.10.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 1 SB 381/17, 07.10.2020
Terminbericht:
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet.
Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG tragen nicht die Verurteilung der Beklagten zur Feststellung eines GdB der Klägerin von mehr als 40. Das LSG hat die von der Versorgungsmedizin-Verordnung in ihrem Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) zwingend vorgegebene Zuordnung gesundheitlicher Einschränkungen zu den dort abschließend aufgezählten Funktionssystemen nicht hinreichend berücksichtigt. Denn es hat offengelassen, ob die Sehstörungen der Klägerin ihrer Psyche oder ihrem Sehapparat entstammen.
Soweit das LSG trotzdem die Vorgaben für das Funktionssystem "Sehorgan" entsprechend angewandt hat, hat es diese nicht beachtet. Anders als das LSG angenommen hat, stellt die Formulierung der VMG, dass auf eine Erklärung der Sehstörungen durch den morphologischen Befund zu achten sei, eine zwingende Voraussetzung für eine GdB-Festsetzung dar. Das ergibt sich insbesondere auch aus der vom Senat eingeholten Auskunft des Ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales als dem fachlich verantwortlichen Urheber der VMG.
Der Senat ist in dieser Hinsicht auch nicht an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden. Denn das Berufungsgericht hat sich über die unauflösbaren Widersprüche zwischen den Angaben der Klägerin und den objektiven Befunden hinweggesetzt, welche die augenärztlichen Begutachtungen ergeben haben. Damit hat das Berufungsgericht das zwingende Erfordernis eines morphologischen Korrelats für die Sehstörungen missachtet.
Das LSG wird nach der Wiedereröffnung des Verfahrens in der Berufungsinstanz zu ermitteln haben, ob die von der Klägerin angegebenen Sehstörungen durch ein Leiden aus dem Funktionssystem "Nervensystem und Psyche" erklärt werden können oder ob sich die Widersprüche zwischen den subjektiven Angaben und dem objektiven Befund auf andere Weise auflösen lassen. Misslingt beides, geht dies nach den allgemeinen Regeln der objektiven Beweislast zulasten der Klägerin.