Sozialrecht B 1 KR 21/21 R, B 1 KR 28/21 R, B 1 KR 9/22 R, B 1 KR 19/22 R - Hohe Hürden für Cannabis auf Kassenrezept

  • Krankenkassen dürfen bei Vorliegen schwerer Erkrankungen die Verordnung von Cannabis zur Krankenbehandlung nur genehmigen, wenn der behandelnde Arzt hierfür eine besonders sorgfältige und umfassende Einschätzung abgegeben hat. Sind die hohen Anforderungen an diese Einschätzung erfüllt, darf die Krankenkasse das Ergebnis der ärztlichen Abwägung nur darauf hin überprüfen, ob dieses völlig unplausibel ist. Das hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts entschieden.

    In seinen vier Urteilen hat der Senat präzisiert, wann im Einzelnen eine schwerwiegende Erkrankung als Voraussetzung einer Cannabistherapie anzunehmen ist. Dabei hat er auf die konkreten Auswirkungen der mit Cannabis zu behandelnden Krankheiten und Symptome abgestellt.


    Cannabis darf auch verordnet werden, wenn noch Standardtherapien zur Verfügung stehen. Hierfür muss der behandelnde Arzt aber den Krankheitszustand umfassend dokumentieren, Therapiealternativen analysieren und die Erfolgschancen und Risiken der Therapien sorgfältig abwägen. Die Krankenkassen dürfen eine solche ärztliche Einschätzung im Gegenzug nur daraufhin überprüfen, ob die Grundlagen der Entscheidung vollständig und nachvollziehbar sind und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist.


    Ob eine Suchtmittelabhängigkeit der Verordnung von Cannabis entgegensteht, hat der Arzt im Einzelfall ebenfalls sorgfältig abzuwägen.

    Versicherte haben aber nur Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel, wenn mehrere Mittel gleich geeignet sind. Dem behandelnden Arzt steht bei der Auswahl von Darreichungsform und Menge insoweit kein Einschätzungsspielraum zu.


    BSG-Urteil vom 10. Nov 2022 - Az. B 1 KR 21/21 R, B 1 KR 28/21 R, B 1 KR 9/22 R, B 1 KR 19/22 R - BSG PM 41/2022


    Aus den Fällen:


    B 1 KR 21/21 R


    A. R. ./. AOK Baden-Württemberg

    Streitig ist die Versorgung mit Cannabisblüten.


    Der 1976 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet an Epilepsie. Im März 2017 beantragte er bei der Beklagten die Versorgung mit Cannabis zur Behandlung der Epilepsie und der epileptischen Symptome mit komplexen fokalen Anfällen. Beigefügt war eine Begründung des behandelnden Vertragsarztes. Die bisherige medikamentöse Therapie und eine Krankenhausbehandlung seien erfolglos geblieben. Die Beklagte lehnte den Antrag gestützt auf Stellungnahmen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ab. Zur Behandlung stünden Standardtherapien zur Verfügung. Seit 2012 seien lediglich Verordnungen über zwei Antiepileptika erfolgt. Weitere Wirkstoffe seien einsetzbar.


    Das SG hat die Klage nach Einholung eines neurologischen Gutachtens abgewiesen. Das LSG hat den Prozesskostenhilfeantrag des Klägers mit ausführlicher Begründung abgelehnt und die Beteiligten auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch Beschluss hingewiesen. Der Kläger hat darauf seinen Vortrag wiederholt und zu einem Punkt hilfsweise einen Beweisantrag gestellt. Das LSG hat die Berufung des Klägers ohne weitere Anhörung durch Beschluss zurückgewiesen. Es fehle an einer vertragsärztlichen Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept und zur Behandlung der Epilepsie stünden leitliniengerechte Behandlungsmethoden zur Verfügung. Eine begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, dass diese Behandlungsmethoden nicht zur Anwendung kommen könnten, liege nicht vor. Der Vertragsarzt habe die bisherige Behandlung nur pauschal ohne konkrete Darstellung der bisher eingesetzten Medikamente und der dabei aufgetretenen Nebenwirkungen geschildert. Der vorherige Cannabiskonsum und die vom Sachverständigen empfohlenen Cannabiskarenz stellten einen begründeten Ausnahmefall dar, der die Beklagte zur Ablehnung der Genehmigung berechtigt habe.

    Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 31 Abs 6 SGB V sowie von § 103 und § 153 Abs 4 Satz 2 SGG.


    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Mannheim - S 9 KR 2831/17, 05.02.2019

    Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 11 KR 772/19, 18.12.2019


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    B 1 KR 28/21 R


    M. H. ./. Bahn-BKK

    Streitig ist die Genehmigung der Versorgung mit getrockneten Cannabisblüten sowie die Kostenerstattung für selbst beschaffte Cannabisprodukte aufgrund privatärztlicher Verordnung.


    Der 1979 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte im Mai 2017 bei dieser die "Übernahme von medizinischen Cannabisprodukten" wegen seiner Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Die Behandlung mit Medikinet Adult sei erfolglos gewesen und habe gravierende Nebenwirkungen gehabt. Die Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die medizinischen Voraussetzungen lägen nicht vor.


    Das SG hat die Klage nach Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens abgewiesen. Beim Kläger liege ein langjähriges chronisches Abhängigkeitssyndrom von Cannabis vor, die Behandlungsmöglichkeiten seiner ADHS seien nicht ausgeschöpft und der medizinische Einsatz von Cannabis sei bei ihm kontraindiziert. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen, sich der Begründung des SG angeschlossen und ergänzt, als Voraussetzung für die Genehmigung einer Cannabistherapie müssten alle verfügbaren Therapiealternativen tatsächlich ausgeschöpft sein (Ultima-Ratio-Versorgung). Da die Beklagte die zu beachtenden Fristen eingehalten habe, lägen auch die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch kraft Genehmigungsfiktion nicht vor.


    Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 31 Abs 6 SGB V.


    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Osnabrück - S 3 KR 355/17, 09.10.2019

    Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 4 KR 490/19, 18.11.2020


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    B 1 KR 9/22 R


    M. K. ./. BKK Verkehrsbau Union

    Streitig ist die Erstattung von Kosten für selbst beschaffte Cannabisblüten aufgrund privatärztlicher Verordnung.


    Der 1990 geborene und bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte am 28.2.2017 durch seine Betreuerin die Kostenübernahme für verordnete Cannabisblüten unter Hinweis auf das Inkrafttreten des § 31 Abs 6 SGB V im März 2017. Zur Begründung des Antrages verwies sie auf die Schmerzerkrankung des Klägers. Die Therapie mit Cannabis werde vom Schmerzarzt und der Hausärztin befürwortet. Die Beklagte teilte am 3.3.2017 die Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit und forderte ergänzende Unterlagen an. Der Kläger legte der Beklagten am 17.3.2017 ein Rezept des behandelnden Arztes über die Verordnung von Sativex sowie Cannabisblüten jeweils mit Angaben zur Verordnungsmenge und Anwendung sowie weitere Untersuchungsbefunde vor, aus denen sich neben den Diagnosen ua einer Fibromyalgie, eines chronischen Schmerzsyndroms, Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung und einer sonstigen cannabinoidbedingten psychischen Störung und Verhaltensstörung auch Angaben zu den Therapiezielen ergeben. Der MDK führte aus, es liege eine Cannabisabhängigkeit, jedoch keine schwerwiegende Erkrankung vor. Behandlungsoptionen seien noch nicht zum Einsatz gekommen, eine Entzugsbehandlung sei vorrangig. Die Beklagte lehnte die beantragte Kostenübernahme ab. Während des Widerspruchsverfahrens übersandte der Kläger eine Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum die Behandlung mit Sativex notwendig sei.


    Das SG hat die Klage abgewiesen, das LSG die Berufung zurückgewiesen. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, allerdings bestünden Therapiealternativen. Es fehle auch an einer ärztlichen Einschätzung, dass solche nicht zur Anwendung gelangen könnten. Eine Genehmigungsfiktion sei nicht eingetreten. Der Kläger habe durch seine Betreuerin zwar einen hinreichend bestimmten Antrag gestellt. Die Fünf-Wochen-Frist beginne aber erst mit Inkrafttreten der Rechtsgrundlage für die begehrte Cannabis-Versorgung am 10.3.2017, so dass der Ablehnungsbescheid spätestens am 13.4.2017 rechtzeitig bekannt gegeben worden sei.


    Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 13 Abs 3a SGB V.


    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Berlin - S 182 KR 2081/17, 30.04.2019

    Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 4 KR 230/19, 17.03.2022


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    B 1 KR 19/22 R


    S. L. ./. AOK Baden-Württemberg

    Streitig ist die Versorgung mit Cannabisblüten.


    Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte, 1973 geborene Klägerin beantragte im März 2020 unter Vorlage eines ärztlichen Attestes ihres behandelnden Vertragsarztes die Versorgung mit Cannabis. Sie leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer Migräne mit Aura, einer chronischen Schmerzkrankheit, einem Stress-Syndrom, einer kombinierten depressiven Störung und Angststörung, einer Schlafstörung, Dysmenorrhö und Hyperhidrosis. Die Multimorbidität begründe den Schweregrad der Erkrankung der Klägerin. Der bisher anerkannte Grad der Behinderung sei mit 30 viel zu gering bemessen. Zur Medikation nehme sie Cannabis. Sie habe schon verschiedene Therapien durchgeführt, eine nachhaltige Wirkung sei jedoch ausgeblieben. Auf manche Schmerzmittel entwickle sie Magenschmerzen und ein Reizdarm-Syndrom. Die Beklagte lehnte den Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung ab. Zwar liege eine schwerwiegende Erkrankung der Klägerin vor, aber es stünden leitliniengerechte Standardtherapien zur Verfügung. Im Widerspruchsverfahren legte die Klägerin eine ergänzende Stellungnahme des behandelnden Arztes vor, der auf die Vielzahl der zur Behandlung der Einzelerkrankungen jeweils erforderlichen chemischen Arzneimittel und ihre Nebenwirkungen verwies. Cannabis sei zu Unrecht als Betäubungsmittel eingeordnet; eine Cannabis-Abhängigkeit gebe es schlichtweg nicht.


    Das SG hat die Klage abgewiesen. Es fehle bereits an einer vertragsärztlichen Verordnung auf einem Betäubungsmittelrezept. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des Anspruchs seien nicht erfüllt, da die Ausführungen des behandelnden Arztes nicht ausreichten. Er habe nicht nachvollziehbar begründet, warum leitliniengerechte Standardtherapien unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustands nicht zur Anwendung kommen könnten. Zudem komme eine Kontraindikation in Betracht, da die Klägerin regelmäßig seit 2001 Cannabis konsumiere, im September 2012 ein Abhängigkeitssyndrom diagnostiziert worden sei und die behandelnden Psychiater die Versorgung mit Cannabis ablehnt hätten.


    Mit ihrer Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen § 31 Abs 6 SGB V.


    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Mannheim - S 13 KR 2168/20 - 05.01.2021

    Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 11 KR 494/21, 11.10.2021


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    Die Entscheidung des Senats:


    Der Senat hat in vier Urteilen die Voraussetzungen der Genehmigung vertragsärztlicher Verordnungen von Cannabisblüten durch die Krankenkassen gemäß § 31 Abs 6 SGB V präzisiert:


    1. Für die Erteilung der Genehmigung einer Cannabis-Verordnung reicht es aus, dass der Vertragsarzt der Krankenkasse (KK) den Inhalt der geplanten Verordnung mitteilt oder der Versicherte der KK eine entsprechende Erklärung des Vertragsarztes übermittelt. Dazu gehört (§ 9 Abs 1 Nr 3-5 BtMVV) die Arzneimittelbezeichnung, die Verordnungsmenge und die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesdosis und Anwendungsform. Die Vorlage einer vom Arzt bereits ausgestellten Verordnung ist nicht erforderlich. Die in § 31 Abs 6 Satz 2 SGB V vorgesehene Genehmigung bedeutet - abweichend vom sonst üblichen Weg der Versorgung mit Arzneimitteln - eine präventive Kontrolle der KK, ob die in Satz 1 benannten Voraussetzungen für einen Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Cannabis erfüllt sind. Diese Kontrollfunktion kann die KK auch ohne Vorlage einer Verordnung ausüben.


    2. Der Anspruch auf Versorgung mit Cannabis besteht nur zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung. Eine Erkrankung ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt.

    Lebensqualität umschreibt das Vermögen, die Befriedigung von Grundbedürfnissen selbst zu gewährleisten, soziale Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten sowie am Erwerbs- und Gesellschaftsleben teilzunehmen. Die dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität ergibt sich deshalb nicht allein aus einer ärztlich gestellten Diagnose. Entscheidend sind Funktionsstörungen und -verluste, Schmerzen, Schwäche und Hilfebedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, welche die Lebensqualität beeinträchtigen.


    Die Auswirkungen der Krankheit mit den sich aus dieser ergebenden Beeinträchtigungen müssen sich durch ihre Schwere vom Durchschnitt der Erkrankungen abheben. Insoweit hält es der Senat für gerechtfertigt, sich an die Bewertung der Auswirkungen von Krankheiten in der Versorgungsmedizin-Verordnung anzulehnen (Teil 2 der Anlage zu § 2 VersMedV). Entsprechen die Auswirkungen nach der GdS-Tabelle bereits allein ohne Einbezug weiterer Erkrankungen einem GdS von 50, kann im Regelfall von einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden. Dies ist weder im Sinne eines starren Grenzwertes zu verstehen, noch ist eine formelle Feststellung eines GdS oder GdB erforderlich, um einen Anspruch auf Versorgung mit Cannabis zu begründen.


    Erreichen die Auswirkungen nicht die Schwere, die einem Einzel-GdS von 50 vergleichbar sind, ist die Annahme einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Lebensqualität nicht ausgeschlossen. Sie kommt im Einzelfall in Betracht, etwa wenn ihre Auswirkungen aufgrund weiterer Erkrankungen schwerer wiegen oder die Teilhabe am Arbeitsleben oder in einem anderen Bereich besonders einschränken.

    Bei multimorbiden Patienten ist auf die Gesamtauswirkungen dieser Erkrankungen abzustellen. Schränken deren sich ggf überschneidende und sich wechselseitig verstärkende Auswirkungen die Lebensqualität in einer einem Einzel-GdS von 50 vergleichbaren Schwere ein, kann grundsätzlich auch vom Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung ausgegangen werden.


    3. Die Genehmigung einer Cannabis-Verordnung setzt weiter voraus, dass eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung entweder nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nicht zur Anwendung kommen kann.


    Eine Standardtherapie steht nicht zur Verfügung (§ 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V),


    (a) wenn es sie generell nicht gibt,


    (b) sie im konkreten Einzelfall ausscheidet, weil der Versicherte diese nachgewiesenermaßen nicht verträgt oder erhebliche gesundheitliche Risiken bestehen oder


    (c) diese trotz ordnungsgemäßer Anwendung im Hinblick auf das beim Patienten angestrebte Behandlungsziel ohne Erfolg geblieben ist.


    Sofern eine Standardtherapie zur Verfügung steht, bedarf es der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann (§ 31 Abs 6 Satz Nr 1 Buchst b SGB V). Das Gesetz gesteht dem behandelnden Vertragsarzt insoweit eine Einschätzungsprärogative zu. An die begründete Einschätzung sind aber hohe Anforderungen zu stellen. Dies ergibt sich aus der Geltung des BtMG, die durch § 31 Abs 6 SGB V nicht aufgehoben ist, und daraus, dass die Behandlung mit Cannabis im zivilrechtlichen Arzthaftungsrecht eine Neulandmethode darstellt, sowie aus Gründen des Patientenschutzes. Die begründete Einschätzung muss folgendes beinhalten:


    - Dokumentation des Krankheitszustandes mit bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte,


    - Darstellung der mit Cannabis zu behandelnden Erkrankung(en), ihrer Symptome und des angestrebten Behandlungsziels,


    - bereits angewendete Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen,


    - noch verfügbare Standardtherapien, deren zu erwartender Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen,


    - Abwägung der Nebenwirkungen einer Standardtherapie mit dem beschriebenen Krankheitszustand und den möglichen schädlichen Auswirkungen einer Therapie mit Cannabis. In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen.


    KKn und Gerichte dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Dies gilt auch im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit. Ob dieser Umstand eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis darstellt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind.


    Der Versicherte hat die begründete Einschätzung beizubringen. Es ist ihm nicht verwehrt, auch im gerichtlichen Verfahren in Reaktion auf die bisherigen Erkenntnisse eine Ergänzung der bisher abgegebenen Einschätzung durch den Vertragsarzt noch vorzulegen. Eine solche Ergänzung kann aber erst ab diesem Zeitpunkt einen Anspruch auf Genehmigung für die Zukunft begründen.


    4. Schließlich setzt der Anspruch voraus, dass durch die Behandlung mit Cannabis eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Auswirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht (Prognose).


    Die Erfolgsaussicht muss sich auf die ursächliche Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung oder auf besonders schwere Symptome bzw Auswirkungen der schwerwiegenden Erkrankung oder Erkrankungen beziehen. Besonders schwer sind Symptome bzw Auswirkungen bereits dann, wenn sie das Bild der schwerwiegenden Erkrankung prägen, ohne dass sie selbst einen GdS von 50 erreichen müssen. In der Gesetzesbegründung wird hierzu die Behandlung von Appetitlosigkeit und Übelkeit bei Krebserkrankung mit Chemotherapie als Beispiel genannt.


    An die Prognose sind keine hohen Anforderungen zu stellen. Ausreichend ist, dass im Hinblick auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome nach wissenschaftlichen Maßstäben objektivierbare Erkenntnisse vorliegen, dass die Behandlung im Ergebnis mehr nutzt als schadet. Dies können Unterlagen und Nachweise der Evidenzstufen IV und V (2. Kap § 11 Abs 2 Satz 1 Nr 2 der Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses) sein. Dazu gehören auch Fallserien und Einzelfallberichte. Dies gilt ‑ anders als im Rahmen von § 2 Abs 1a SGB V ‑ unabhängig von der Schwere der Erkrankung.


    5. Liegen die vorgenannten Tatbestandsvoraussetzungen vor, darf die KK die Genehmigung der Verordnung nur in begründeten Ausnahmefällen verweigern. Hierfür ist sie darlegungs- und beweispflichtig. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative zur Unanwendbarkeit einer Standardtherapie darf hierbei nicht unterlaufen werden. In Betracht kommen deshalb in erster Linie nichtmedizinische Gründe, etwa die unbefugte Weitergabe des verordneten Cannabis an Dritte. Demgegenüber begründen ein Vorkonsum und eine Cannabisabhängigkeit regelmäßig keinen solchen Ausnahmefall.


    6. Bei der Auswahl der Darreichungsform und der Verordnungsmenge hat der Vertragsarzt das allgemeine Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten. Insoweit steht ihm keine Einschätzungsprärogative zu. Bei voraussichtlich gleicher Geeignetheit von Cannabisblüten, Cannabisextrakten und Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon besteht nur ein Anspruch auf Versorgung mit dem kostengünstigsten Mittel. Die KK ist berechtigt, trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen die Genehmigung der vom Vertragsarzt beabsichtigten Verordnung zu verweigern und auf eine günstigere, voraussichtlich gleich geeignete Darreichungsform zu verweisen.

    Die Revision des Klägers hatte keinen Erfolg. Nach den Feststellungen des LSG stehen zur Behandlung der Epilepsie noch weitere, dem medizinischen Standard entsprechende Methoden zur Verfügung. Es fehlt an einer begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes, warum diese nicht zur Anwendung kommen können. Der festgestellte Cannabiskonsum des Klägers berechtigte die beklagte Krankenkasse jedenfalls nicht, aufgrund eines begründeten Ausnahmefalls die Genehmigung abzulehnen. Ob der in der Vergangenheit erfolgte Cannabiskonsum einer Behandlung mit Cannabis im Sinne einer Kontraindikation entgegensteht, ist in erster Linie vom behandelnden Vertragsarzt zu beurteilen und steht einer Genehmigung ‑ anders als das LSG meint ‑ nicht grundsätzlich entgegen. Die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge war unbegründet. Sind - wie hier - dem Kläger als Berufungskläger die Gründe für die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung durch einen vorausgegangenen ablehnenden PKH-Beschluss bekannt, ist eine erneute Anhörung nur erforderlich, wenn zu allen vom LSG mitgeteilten Gründen durch neuen Vortrag oder neue Beweisanträge bzw -anregungen eine neue prozessuale Situation geschaffen wird.

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