Sozialrecht B 2 U 8/21 R - Krebs als Berufskrankheit auch bei ehemaligen Rauchern

  • Die Harnblasenkrebserkrankung eines Schweißers kann wegen der beruflichen Einwirkung aromatischer Amine trotz langjährigen Rauchens als Berufskrankheit anerkannt werden, wenn der Nikotinkonsum nach jahrelanger Abstinenz nicht mehr hinreichend wahrscheinlich die Krebserkrankung verursacht hat. Dies hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts entschieden (Aktenzeichen B 2 U 8/21 R).

    Der 1956 geborene Kläger war von 1998 bis 2013 als Schweißer beschäftigt. Zur Rissprüfung von Schweißnähten verwendete der Kläger azofarbstoffhaltige Sprays mit dem kanzerogenen aromatischen Amin o-Toluidin. 2014 wurde bei ihm Harnblasenkrebs diagnostiziert. Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte die Feststellung einer Berufskrankheit ab. Der langjährige Nikotinkonsum des Klägers habe zu einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos geführt.


    Anders als das Sozialgericht hat das Landessozialgericht die Klage auf Anerkennung einer Berufskrankheit Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung abgewiesen. Die Einwirkungsdosis an o-Toluidin erreiche nicht annähernd Werte in Höhe der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert).


    Das Bundessozialgericht hat dagegen die Entscheidung des Sozialgerichts zugunsten des Klägers bestätigt. Die Berufskrankheit Nummer 1301 setzt keine Mindesteinwirkungsdosis aromatischer Amine voraus. Konkrete außerberufliche Ursachen der Erkrankung sind ausgeschlossen. Insbesondere ist mit seiner Aufgabe im Jahr 2000 das Rauchen nicht mehr hinreichend wahrscheinlich eine Ursache der Krebserkrankung des Klägers.


    BSG PM 31/2023


    J.O. ./. Berufsgenossenschaft Holz und Metall


    Der 1956 geborene Kläger war von 1998 bis 2013 unter anderem als Schweißer in der Herstellung von Großkücheneinrichtungen beschäftigt. Die Tätigkeit umfasste das Schweißen von Fettbackgeräten. Zur Rissprüfung von Schweißnähten verwendete der Kläger azofarbstoffhaltige Sprays, die zunächst auf das Werkstück aufgesprüht und dann mit einem Lappen weggewischt wurden und das kanzerogene aromatische Amin o-Toluidin enthielten.


    2014 wurde bei ihm Harnblasenkrebs diagnostiziert. Die Beklagte lehnte die Feststellung einer Berufskrankheit nach Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine - BK 1301) ab. Als außerberufliche Ursache komme der langjährige Nikotinkonsum des Klägers in Betracht, der zu einer Verdoppelung des Erkrankungsrisikos geführt habe.


    Die Klage auf Anerkennung einer BK 1301 war vor dem Sozialgericht erfolgreich. Dagegen hat das Landessozialgericht die Klage nach Einholung eines Sachverständigengutachtens abgewiesen. Die BK 1301 gebe zwar keine Mindestexpositionsmenge vor. Der Sachverständige sei aber überzeugend zu der Einschätzung gelangt, dass eine ausreichende Exposition gegenüber o-Toluidin prinzipiell dann anzunehmen sei, wenn eine Exposition in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 µg o-Toluidin/m³ vorliege. Die inhalative und dermale Exposition gegenüber dem im Rissprüfspray zu weniger als 2 % enthaltenen Azofarbstoff auf der Basis von o-Toluidin über etwa eine Stunde täglich erscheine damit nicht vergleichbar. Die berufliche Einwirkung sei nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Erkrankung. Es sprächen ebenso gute Gründe für eine andere Verursachung.


    Mit der Revision rügt der Kläger unter anderem die Verletzung des § 9 SGB VII in Verbindung mit Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung. Das Landessozialgericht habe eine Einwirkungsdosis zugrunde gelegt, die sich dem Verordnungstext nicht entnehmen lasse.


    Verfahrensgang:

    Sozialgericht Reutlingen, S 4 U 2792/15, 14.12.2016

    Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 9 U 488/17, 29.09.2020


    Terminsbericht: 39/2023


    Die Revision des Klägers war erfolgreich. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung seiner Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit Nummer 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung.


    Die arbeitstechnischen Voraussetzungen sind erfüllt, weil der Kläger während seiner versicherten Tätigkeit als Schweißer von 1998 bis 2013 arbeitstäglich dem krebserregenden aromatischen Amin o-Toluidin sowohl inhalativ als auch dermal ausgesetzt war. Auf ein Erreichen einer Belastungsdosis in Höhe des ehemaligen Wertes der Technischen Richtkonzentration (TRK-Wert) von 500 µg o-Toluidin/m³ kommt es nicht an, weil die Berufskrankheit Nummer 1301 keinen Mindestexpositionswert enthält.


    Auch die medizinischen Voraussetzungen sind gegeben. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Harnblasenkrebs des Klägers und den beruflichen Einwirkungen von o-Toluidin ist auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen zu bejahen. Aromatische Amine sind aufgrund der Berufskrankheit 1301 abstrakt-generell geeignet, Harnblasenkrebs zu verursachen. Die konkret-individuelle Kausalität im Fall des Klägers ergibt sich im Ausschlussverfahren, auf das die Vorinstanz zur Eingrenzung möglicher Krankheitsursachen in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zurückgegriffen hat.


    Das Landessozialgericht hat danach für den Senat bindend festgestellt, dass der langjährige Nikotinkonsum nicht hinreichend wahrscheinlich Ursache der Harnblasenkrebserkrankung ist. Zugleich hat es weitere in Betracht kommende außerberufliche Konkurrenzfaktoren (Einnahme bestimmter Medikamente, chronische Harnwegsinfekte, Steinleiden oder Bestrahlungstherapien im kleinen Becken) ausgeschlossen. Damit verblieb die berufliche Belastung mit o-Toluidin als einziger Ursachenfaktor. Soweit das Landessozialgericht gleichwohl unspezifisch "gute Gründe für eine andere Verursachung wie für die berufliche Einwirkung des Stoffes" angenommen hat, hat es methodisch und rechtlich unzulässig unbekannte Faktoren berücksichtigt.

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