Sozialrecht B 2 U 11/20 R - Posttraumatische Belastungsstörung als Berufskrankheit bei Rettungssanitätern?

  • Kann eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Rettungssanitätern als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt werden, obwohl die Posttraumatische Belastungsstörung nicht zu den in der Berufskrankheiten-Verordnung aufgezählten Berufskrankheiten gehört?

    Eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Rettungssanitätern kann als „Wie-Berufskrankheit“ anerkannt werden, auch wenn die Posttraumatische Belastungsstörung nicht zu den in der Berufskrankheiten-Verordnung aufgezählten Berufskrankheiten gehört. Dies hat der 2. Senat des Bundessozialgerichts am 22. Jun 2023 entschieden (Aktenzeichen B 2 U 11/20 R).


    Aus dem Fall:


    Der Kläger ist Rettungssanitäter. Im Juli 2016 legte er bei der Beklagten einen Entlassungsbericht der Deutschen Rentenversicherung vor, in dem unter anderem eine Posttraumatische Belastungsstörung festgestellt wurde. Der Bericht führte aus, der Kläger habe im Rettungsdienst viele traumatisierende Erlebnisse gehabt (zum Beispiel Amoklauf, Suizide und andere das Leben sehr belastende Momente). Gleichzeitig habe er über Personalknappheit und ähnliche ihn belastende Vorgänge in der Rettungswache berichtet. Konkret habe die beschriebene Symptomatik nach zwei Amokläufen begonnen, als der Kläger als Helfer eingesetzt worden sei, sowie nach Suiziden von zwei miteinander befreundeten Mädchen.


    Die Beklagte lehnte die Anerkennung einer Berufskrankheit ab. Gleichzeitig stellte sie fest, dass die Erkrankung auch nicht als Wie-Berufskrankheit anzuerkennen sei. Der allein hierauf gerichtete Widerspruch blieb ohne Erfolg. Die Klage und Berufung waren ebenfalls erfolglos. Das Landessozialgericht hat ausgeführt, es gehe davon aus, dass Rettungssanitäter wie der Kläger während ihrer Arbeitszeit einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen ausgesetzt seien. Ausreichend gesicherte neue medizinische Erkenntnisse über ein deutlich erhöhtes Risiko bei Rettungssanitätern, eine beruflich verursachte Posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, lägen aber ebenso wenig vor wie über den Umstand, dass (allein) die wiederholte Konfrontation der Ersthelfer mit traumatischen Ereignissen bei anderen Personen generell geeignet sei, eine Posttraumatische Belastungsstörung zu verursachen.


    Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts (§ 9 Abs. 2 SGB VII) und von Verfahrensrecht.


    Der Senat hat nach Stellungnahmen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie des Ärztlichen Sachverständigenbeirats ein Sachverständigengutachten zum Auftreten und zu Ursachenzusammenhängen von Posttraumatischen Belastungsstörungen in der Berufsgruppe der Rettungssanitäter eingeholt. Die parallel durchgeführte Metaanalyse ist in “Frontiers in Public Health“ unter dem 9. März 2023 veröffentlicht.


    Entscheidung des BSG:


    Die Revision des Klägers war im Sinne der Zurückverweisung erfolgreich. Das Landessozialgericht hat seine Berufung gegen das abweisende Urteil des Sozialgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Die Ablehnung der Anerkennung einer Wie-Berufskrankheit ist rechtswidrig. Allerdings reichen die festgestellten Tatsachen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.


    Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine Erkrankung, die wegen der besonderen Einwirkungen, denen Rettungssanitäter gegenüber der übrigen Bevölkerung ausgesetzt sind, als Wie-Berufskrankheit bei dieser Personengruppe anzuerkennen ist. Rettungssanitäter sind einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen (unter anderem erfolglose Rettungsmaßnahmen, Bergung von Schwerverletzten oder Unfalltoten, Auffinden von Suizidenten und insbesondere das Auffinden und Bergen von Kindern) ausgesetzt. Diese Einwirkungen sind abstrakt-generell nach dem Stand der Wissenschaft Ursache einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Der generelle Ursachenzusammenhang ergibt sich jedenfalls für die Posttraumatische Belastungsstörung bereits aus den international anerkannten Diagnosesystemen ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation) und DSM (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung) sowie den Leitlinien der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften. Der Senat hat bereits entschieden, dass insbesondere das DSM V (5. Auflage) den repräsentativen aktuellen Erkenntnisstand im Bereich der Psychiatrie darstellt (BSG Urteil vom 28.6.2022 ‑ B 2 U 9/20 R ‑ Randnummer 24f). Die Erkenntnisse zum generellen Ursachenzusammenhang sind auch „neu“ im Rechtssinne. Bis jetzt ist nicht einmal eine Vorprüfung durch die zuständigen Gremien erfolgt, so dass sich der Verordnungsgeber zu keinem Zeitpunkt mit dem aus den Diagnosesystemen ableitbaren Ursachenzusammenhang auseinandergesetzt beziehungsweise eine Anerkennung oder Ablehnung der Posttraumatischen Belastungsstörung als (Listen-)Berufskrankheit bei Rettungssanitätern geprüft hat.


    Für eine abschließende Entscheidung des Senats fehlt es indes an Feststellungen des Landessozialgerichts zu den individuellen Voraussetzungen einer tätigkeitsbedingten Posttraumatischen Belastungsstörung als Wie-Berufskrankheit beim Kläger.


    Verfahrensgang:


    Sozialgericht Stuttgart, S 1 U 1682/17, 08.11.2018
    Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 8 U 4271/18, 13.12.2019
    Bundessozialgericht, B 2 U 11/20 R, 06.05.2021 - BSG PM 14/2023 und BSG PM 19/2023

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