Sozialrecht B 1 KR 7/22 R - Grundsätze der Arzneimittelzulassung gelten auch bei Risiken in der Schwangerschaft

  • Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat entschieden (Aktenzeichen B 1 KR 7/22 R), wann schwangere Frauen ausnahmsweise Anspruch auf ein für die konkrete Behandlung nicht zugelassenes Arzneimittel haben, um ihr ungeborenes Kind vor einer gefährlichen Infektion zu schützen. Dafür ist erforderlich, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Verlauf spricht.

    Die schwangere Klägerin hatte sich mit dem für sie ungefährlichen Zytomegalievirus infiziert. Es bestand jedoch ein Ansteckungsrisiko für das ungeborene Kind mit potentiell schwerwiegenden Folgen bis hin zum Abort. Bei der großen Mehrheit der Schwangerschaften infizierter Mütter kommen Kinder gesund zur Welt. Das von der Klägerin begehrte Arzneimittel sollte die Ansteckungswahrscheinlichkeit für das Ungeborene verringern. Es war aber hierfür nicht zugelassen und nicht abschließend erforscht. Die Krankenkasse lehnte die Übernahme der Kosten deshalb ab.


    Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat diese Entscheidung bestätigt. Der Staat muss das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich bei schwangeren Frauen auch auf das ungeborene Kind. Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt aber dem Gesetzgeber. Nur in extremen, nunmehr einfachgesetzlich geregelten Ausnahmefällen haben Versicherte außerhalb des jeweils maßgeblichen Qualitätsgebots weitergehende Ansprüche, wenn sie sich in einer notstandsähnlichen Situation befinden. Dabei muss eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf sprechen. Das war nach der hier allein möglichen statistischen Betrachtung nicht der Fall.


    BSG-Urteil vom 24. Jan 2023 - B 1 KR 7/22 R - BSG PM 01/2023


    Aus dem Fall:


    Die Beteiligten streiten um die Erstattung der Kosten für ein Arzneimittel.


    Die Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich krankenversichert. Bei ihr wurde im Jahr 2015 eine Infektion mit dem humanen Zytomegalievirus festgestellt. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in der neunten Schwangerschaftswoche. Sie beantragte bei der Beklagten die Versorgung mit dem verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel Cytotect CP Biotest. Dieses ist in Deutschland nur zur Prophylaxe einer Virusinfektion im Rahmen einer immunsuppressiven Therapie zugelassen. Eine europäische Arzneimittelzulassung liegt nicht vor. Die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei Schwangerschaft sind nicht abschließend erforscht. Die Beklagte lehnte den Antrag ab. Die Klägerin ließ sich auf eigene Kosten dreimal ambulant mit dem Arzneimittel behandeln und wendete hierfür insgesamt 8753,55 Euro auf.


    Das Sozialgericht hat die Beklagte zur Erstattung dieser Kosten nebst Zinsen verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erstattung der Therapiekosten. Das Fertigarzneimittel sei nicht für den gewählten Anwendungsbereich zugelassen, auch die Voraussetzungen für eine zulassungsüberschreitende Versorgung im Rahmen eines Off-Label-Use lägen nicht vor. Ein Anspruch der Klägerin habe auch nicht nach § 2 Abs. 1a SGB V bestanden. Zwar habe eine Krankheit vorgelegen. Diese sei jedoch nicht lebensbedrohlich oder regelmäßig tödlich oder wertungsmäßig vergleichbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind durch die Infektion keinen schweren Schaden erleiden würde, sei mit etwa 84 Prozent deutlich höher gewesen als die Wahrscheinlichkeit einer schweren oder gar tödlichen Schädigung. Auch habe es an einer auf Indizien gestützten, nicht ganz fernliegenden Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf gefehlt.


    Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 2 Abs. 1a SGB V, Art. 2 Abs. 2 GG sowie § 128 Abs. 1 SGG.


    Verfahrensgang:

    Sozialgericht München, S 7 KR 1723/15, 21.03.2018

    Bayerisches Landessozialgericht, L 4 KR 318/18, 25.11.2021


    Terminbericht:


    Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landessozialgericht das stattgebende Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen. Der Klägerin steht der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch nicht zu. Die Voraussetzungen für die Versorgung mit dem Arzneimittel Cytotect CP Biotest zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung lagen nicht vor.


    Die Klägerin litt zwar an einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Dafür genügt auch das hier vorliegende Risiko einer Schädigung des bislang nicht infizierten ungeborenen Kindes durch eine mögliche Übertragung der Infektion im Mutterleib. Der Anspruch auf Krankenbehandlung scheitert aber daran, dass das Arzneimittel Cytotect CP Biotest für die Behandlung einer Infektion mit dem Zytomegalievirus während der Schwangerschaft nicht zugelassen ist und die durch Gesetz und Rechtsprechung anerkannten Ausnahmen nicht vorlagen. Der für einen Off-Label-Use erforderliche Nachweis der Wirksamkeit ist nicht geführt.


    Die Klägerin hatte auch keinen Anspruch auf das Arzneimittel nach § 2 Abs. 1a SGB V. Sie und ihr ungeborenes Kind litten nicht an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen oder wertungsmäßig hiermit vergleichbaren Erkrankung. Hierzu muss nach den konkreten Umständen des Falles bereits drohen, dass sich mit großer Wahrscheinlichkeit der voraussichtlich tödliche oder hiermit gleichgestellte Krankheitsverlauf innerhalb eines kürzeren, überschaubaren Zeitraums verwirklichen wird. Dies gilt auch für die Behandlung von Schwangeren zum Schutz des ungeborenen Lebens. Im Falle einer für das ungeborene Kind gefährlichen Infektion der Schwangeren liegt aber jedenfalls dann keine notstandsähnliche Lage in dem vorbeschriebenen Sinne vor, wenn die Wahrscheinlichkeit der Geburt eines gesunden Kindes deutlich überwiegt. Dies ergibt sich aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 2 Abs. 1a SGB V. Die Schutzwirkungen der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip führen nicht zu einer erweiternden Auslegung.


    Nach den nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des Landessozialgerichts bestand keine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das ungeborene Kind der Klägerin durch die Infektion sterben oder eine wertungsmäßig vergleichbare dauerhafte Schädigung erleiden würde.

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