Einem Syrer, der Syrien 2012 verlassen hatte und befürchtete, zum Militärdienst einberufen oder verhaftet zu werden, wenn er sich weigern sollte, seinen militärischen Pflichten nachzukommen, wurde 2017 in Deutschland subsidiärer Schutz1 zuerkannt. Die Flüchtlingseigenschaft2 wurde ihm jedoch verweigert.
Nach einem Urteil des Gerichtshofs zur Situation von syrischen Kriegsdienstverweigerern3 stellte er einen neuen Asylantrag (einen sogenannten „Folgeantrag“). Er machte geltend, dass dieses Urteil eine ihn begünstigende Änderung der Rechtslage darstelle. Der Folgeantrag wurde jedoch als unzulässig abgelehnt, d. h. ohne Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt waren.
Der Betroffene erhob gegen diese Ablehnung Klage bei einem deutschen Gericht. Dieses möchte vom Gerichtshof u. a. wissen, ob es mit dem Unionsrecht4 vereinbar ist, davon auszugehen, dass grundsätzlich nur eine Änderung der anwendbaren Bestimmungen und nicht auch eine gerichtliche Entscheidung einen neuen Umstand darstellen kann, der gegebenenfalls eine vollständige Prüfung des Folgeantrags rechtfertigt.
Der Gerichtshof antwortet, dass grundsätzlich jedes Urteil des Gerichtshofs einen neuen Umstand darstellen kann, der eine erneute vollständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft5 erfüllt sind, rechtfertigen kann. Dies gilt auch für ein Urteil, das sich auf die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts beschränkt, die bei Erlass einer Entscheidung über einen früheren Antrag bereits in Kraft war. Das Verkündungsdatum des Urteils ist irrelevant. Ein Urteil des Gerichtshofs stellt allerdings nur dann einen neuen Umstand dar, der eine erneute vollständige Prüfung rechtfertigt, wenn es erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beiträgt, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft6 anzuerkennen ist.
In Bezug auf das weitere Verfahren, wenn ein nationales Gericht eine Entscheidung aufhebt, mit der ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wurde, stellt der Gerichtshof außerdem klar, dass die Mitgliedstaaten – ohne dazu verpflichtet zu sein – ihre Gerichte ermächtigen können, selbst7 über diesen Antrag zu entscheiden und gegebenenfalls die Flüchtlingseigenschaft8 zuzuerkennen.
Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-216/22 | Bundesrepublik Deutschland (Zulässigkeit eines Folgeantrags) | EuGH PM 26/2024 | 08. Febr 2024
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1 Der subsidiäre Schutz gilt für jeden Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, aber
stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, was insbesondere die Hinrichtung und eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung einschließt.
2 Die Flüchtlingseigenschaft ist in Fällen der Verfolgung von Drittstaatsangehörigen wegen der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vorgesehen.
3 Urteil des Gerichtshofs vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl), C-238/19 (vgl. EuGH PM 142/2020).
4 Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und
Aberkennung des internationalen Schutzes.
5 Oder subsidiären Schutzes.
6 Oder subsidiären Schutzes.
7 In einem solchen Fall müssen diese Gerichte die für Anträge auf internationalen Schutz geltenden Garantien achten.
8 Oder, je nachdem, subsidiären Schutz.