Strafprozessrecht C-158/21 - Eine vollstreckende Justizbehörde darf die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nicht unter Berufung auf die fehlende Zuständigkeit des Gerichts ablehnen, ...

  • ... das über die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat Recht zu sprechen hat.

    Diese Behörde muss die Vollstreckung allerdings ablehnen, wenn sie systemische oder allgemeine Mängel, die das Justizsystems dieses Mitgliedstaats beeinträchtigen, sowie die offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person in diesem Mitgliedstaat Recht zu sprechen hat, feststellt.

    Der spanische Oberste Gerichtshof stellt dem Gerichtshof Fragen, die im Rahmen von Ermittlungen gegen ehemalige katalanische Politiker aufgeworfen wurden, nachdem am 1. Oktober 2017 ein Referendum über die Selbstbestimmung der Autonomen Gemeinschaft Katalonien (Spanien) abgehalten worden war. Da einige der Angeklagten, darunter Herr Lluís Puig Gordi, Spanien verlassen hatten, wurden gegen sie Europäische Haftbefehle ausgestellt. Die belgischen Gerichte lehnten es ab, den gegen Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken. Ihrer Ansicht nach bestand die Gefahr eines Verstoßes gegen dessen Recht, vor ein durch Gesetz errichtetes Gericht gestellt zu werden, da die Zuständigkeit des spanischen Obersten Gerichtshofs, über die gesuchten Personen Recht zu sprechen, auf keiner ausdrücklichen Rechtsgrundlage beruhe.


    Der spanische Oberste Gerichtshof fragt sich, ob eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund, der nicht im Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl1 steht, oder die fehlende Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde (im vorliegenden Fall des spanischen Obersten Gerichtshofs) zur Ausstellung des fraglichen Europäischen Haftbefehls ablehnen darf. Außerdem hat er Zweifel hinsichtlich der Voraussetzungen, unter denen die Justizbehörde, die mit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls betraut ist (im vorliegenden Fall die belgischen Gerichte), die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Grundrechte des Angeklagten ablehnen darf. Insbesondere fragt er sich, ob die vollstreckende Justizbehörde zu diesem Zweck die Zuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person im Fall von deren Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Recht zu sprechen hat, prüfen darf.


    Der spanische Oberste Gerichtshof erklärt auch, dass er über die Aufrechterhaltung oder die Aufhebung der bestehenden Europäischen Haftbefehle entscheiden müsse, und fragt den Gerichtshof nach der eventuellen Ausstellung neuer Europäischer Haftbefehle.


    Der Gerichtshof (Große Kammer) weist darauf hin, dass die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten den Eckpfeiler des Systems der justiziellen Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Haftbefehls darstellen. Er hebt allerdings auch die grundlegende Bedeutung des Grundrechts auf ein faires Verfahren hervor. Dieses Recht garantiert nämlich den Schutz sämtlicher Rechte, die dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen, sowie die Wahrung der den Mitgliedstaaten gemeinsamen Werte. Im Licht dieser Grundsätze und dieses Rechts beantwortet der Gerichtshof die Fragen des spanischen Obersten Gerichtshofs wie folgt:


    Eine vollstreckende Justizbehörde ist nicht befugt, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund abzulehnen, der nur aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgeht. Wenn dies so wäre, würde der Rahmenbeschluss nicht einheitlich angewendet, und die Mitgliedstaaten könnten die Tragweite der Pflicht, Europäische Haftbefehle zu vollstrecken, frei festlegen. Der Gerichtshof fügt hinzu, dass eine ablehnende Entscheidung, die nach einer angemessenen Prüfung getroffen wird, Ausnahmecharakter haben muss.


    Jedoch kann die vollstreckende Justizbehörde eine nationale Bestimmung anwenden, die vorsieht, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, wenn diese Vollstreckung zu einem Verstoß gegen ein Grundrecht führen würde, das im Unionsrecht niedergelegt ist. Die Tragweite dieser nationalen Bestimmung darf allerdings nicht über die im Rahmenbeschluss in der Auslegung durch den Gerichtshof vorgesehenen Pflicht, die Grundrechte zu wahren, hinausgehen.


    Des Weiteren darf die vollstreckende Justizbehörde nicht überprüfen, ob ein Europäischer Haftbefehl von einer Justizbehörde ausgestellt wurde, die nach dem nationalen Recht des Ausstellungsmitgliedstaats dafür zuständig war, und seine Vollstreckung nicht ablehnen, wenn dies ihres Erachtens nicht der Fall ist.


    Wenn die gesuchte Person geltend macht, ihr drohe bei ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat (im vorliegenden Fall Spanien) insofern eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren, als dort ein Gericht über sie Recht sprechen werde, das dafür nicht zuständig sei, muss die vollstreckende Justizbehörde (im vorliegenden Fall die belgischen Gerichte) allerdings die Stichhaltigkeit dieser Behauptung im Rahmen der von der Rechtsprechung des Gerichtshofs entwickelten zweistufigen Prüfung untersuchen. Diese Behörde muss also

    1. zunächst prüfen, ob aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats oder aufgrund von Mängeln, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person angehört, eine echte Gefahr der Verletzung dieses Rechts besteht,
    2. und dann gegebenenfalls konkret und genau prüfen, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der Straftat und des Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.

    Die Vollstreckung kann nur dann wegen fehlender Zuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person Recht zu sprechen hat, abgelehnt werden, wenn die vollstreckende Justizbehörde das Vorliegen solcher Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat und die offensichtlich fehlende Zuständigkeit dieses Gerichts bejaht.


    Des Weiteren muss gemäß der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit vor der Ablehnung der Vollstreckung aufgrund offensichtlich fehlender Zuständigkeit des Gerichts, das über die gesuchte Person Recht zu sprechen hat, die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen gebeten werden, wie es der Rahmenbeschluss vorsieht.


    Als Letztes entscheidet der Gerichtshof, dass es möglich ist, nacheinander mehrere Europäische Haftbefehle gegen eine gesuchte Person auszustellen, um ihre Übergabe durch einen Mitgliedstaat zu erreichen, nachdem die Vollstreckung eines ersten Europäischen Haftbefehls, der sich gegen diese Person richtet, von diesem Mitgliedstaat abgelehnt wurde.


    Allerdings darf die Vollstreckung des neuen Europäischen Haftbefehls nicht zu einer Verletzung der Grundrechte dieser Person führen, und seine Ausstellung muss verhältnismäßig sein.


    EuGH-Urteil vom 31. Jan 2023 des Gerichtshofs in der Rechtssache C-158/21 | Puig Gordi u.a. | EuGH PM 19/2023


    ______________________________________

    1 Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten - Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung.

ZAP-Hosting Gameserver für Minecraft