Sozialrecht B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R - Gehunfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum ist maßgeblich für die Nutzung von Behindertenparkplätzen

  • Der 9. Senat des Bundessozialgerichts hat am 9. März 2023 entschieden, dass für die Zuerkennung des Merkzeichens aG und damit die Nutzung von Behindertenparkplätzen die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich ist. Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen aG zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung.

    Im zuerst verhandelten Fall (Aktenzeichen B 9 SB 1/22 R) leidet der Kläger unter anderem an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten besteht aber nicht mehr. Das Bundessozialgericht hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Da das Bundessozialgericht nicht abschließend entscheiden konnte, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss, wurde der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.


    Der Kläger des zweiten Verfahrens (Aktenzeichen B 9 SB 8/21 R) kann infolge einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Das Bundessozialgericht hat entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen am Leben in die Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht entgegen. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers entspricht auch einem GdB von 80.


    BSG PM 09/2023


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    Aus den Fällen:


    B 9 SB 1/22 R


    K. S. ./. Landkreis Zwickau


    Die Beteiligten streiten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung).


    Der 1972 geborene Kläger leidet an einer fortschreitenden Muskelschwunderkrankung (Muskeldystrophie Typ Becker-Kiener) und einer Herzmuskelschwäche, die mit einem Defibrillator und Herzschrittmacher versorgt ist. 2017 beantragte er die Feststellung eines höheren als des bisher festgestellten Grads der Behinderung (GdB) von 60 und die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen aG. Daraufhin stellte der Beklagte den GdB mit 80 und den Fortbestand der bereits zuvor festgestellten Voraussetzungen des Merkzeichens G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest. Dabei bewertete er die Muskeldystrophie mit einem Einzel-GdB von 60 und die Herzerkrankung mit einem Einzel-GdB von 50. Die Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG lehnte er ab. Der hinsichtlich des Merkzeichens aG eingelegte Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.


    Die Klage hat das Sozialgericht nach Befragung der behandelnden Ärzte und Einholung eines Gutachtens abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht den Beklagten verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 12. Februar 2020 die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien ab dem Tag einer weiteren Begutachtung des Klägers im Berufungsverfahren festzustellen. Bei dem Kläger liege eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, die einem GdB von mindestens 80 entspreche. Eine freie Gehfähigkeit im maßgeblichen normalen, mit Unebenheiten versehenen Lebensumfeld ohne Selbstverletzungsgefahr bestehe nicht mehr. Die Fähigkeit, im idealen Umfeld eines Krankenhausflures zu gehen, sei insoweit unschädlich. Die progrediente Muskelschwunderkrankung sei beim Kläger mit mittelgradigen Auswirkungen verbunden, die wegen der fehlenden Möglichkeit, die Arme zur Gleichgewichtskoordination oder zum Gebrauch einer Gehhilfe oder eines Rollators zu nutzen, mit einem Einzel-GdB von 80 zu bewerten seien.


    Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 229 Absatz 3 SGB IX, Teil B Nummer 18.6 der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (Versorgungsmedizinische Grundsätze <VMG>), § 128 Abs. 1 S. 1 SGG und § 103 SGG. Für die Erheblichkeit der mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung sei eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr nicht der Maßstab. Auch ein Vergleich der Muskelkrankheit mit orthopädischen Leiden sei nach § 229 Abs. 3 SGB IX nicht angezeigt. Zudem verkenne das Landessozialgericht die Anforderungen an das Merkmal der dauernden Beeinträchtigung. Es habe zu Unrecht auf ein von ihm definiertes "normales Lebensumfeld" anstelle einer Teilhabebeeinträchtigung in allen Lebenslagen abgestellt. Hinsichtlich der Höhe des GdB habe es sich nicht mit dem Gesamtergebnis des Verfahrens auseinandergesetzt und die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, indem es die in den VMG festgelegten Kriterien außer Acht gelassen habe.


    Verfahrensgang:

    Sächsisches Landessozialgericht, L 9 SB 99/19, 29.01.2021

    Sozialgericht Chemnitz, S 32 SB 333/18, 25.06.2019



    B 9 SB 8/21 R

    M. E. ./. Land Baden-Württemberg


    Auch hier streiten die Beteiligten über die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG.

    Der 2009 geborene Kläger leidet an einem angeborenen Gendefekt mit globaler Entwicklungsstörung. Diese äußert sich unter anderem in einer Störung der Körpermotorik und des Verhaltens sowie einer mittelschweren Intelligenzminderung. Frei gehen kann der Kläger nur in vertrauten Situationen in der Schule oder im häuslichen Bereich, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Dort benötigt er beim Gehen wegen seiner psychischen Beeinträchtigung die Hilfe einer ihm bekannten Begleitperson, auf deren Unterarm er sich abstützen oder mit deren Hilfe er im Rollstuhl oder Reha-Buggy transportiert werden muss.


    Der Beklagte hat bei ihm zuletzt einen GdB von 80 festgestellt und ihm die Merkzeichen G (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), B (Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson) und H (Hilflosigkeit) zuerkannt, das Merkzeichen aG aber abgelehnt.


    Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht nach medizinischer Beweiserhebung den Beklagten verpflichtet, zugunsten des Klägers ab 11. Dezember 2018 - dem Tag seiner Begutachtung im Klageverfahren - die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG festzustellen. Das Landessozialgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Die Parkvergünstigung durch dieses Merkzeichen sei gerade auf eine fremde Umgebung ausgerichtet. Sie solle dem behinderten Menschen die Erledigung alltäglicher Angelegenheiten erleichtern und damit seine Integration in die Gesellschaft fördern. Die geistige Behinderung des Klägers behindere seine Mobilität wesentlich. Behinderungsbedingt könne er sein motorisches Potenzial nur in vertrauter Umgebung und Situation ausschöpfen.


    Mit seiner Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 229 Abs. 3 SGB IX. Der Kläger sei nicht entsprechend den gesetzlichen Vorgaben dauerhaft beeinträchtigt, weil er in vertrauter Umgebung gehen könne. Das Landessozialgericht habe den Beurteilungsmaßstab zu Unrecht zugunsten des Klägers auf dessen Gehfähigkeit in einer fremden Umgebung reduziert. Das Gesetz bezwecke keine partielle Parkerleichterung für besondere einzelne Alltagssituationen, sondern eine umfassende Integration in allen Lebenslagen. Der Lebensalltag des Klägers werde maßgeblich von Wegen in bekannter Umgebung geprägt. Ein Bedürfnis für Parkerleichterungen müsse gerade in diesen Alltagssituationen bestehen. Dies habe das Landessozialgericht aber nicht festgestellt.


    Verfahrensgang:

    Sozialgericht Ulm, S 9 SB 2624/17, 21.10.2019

    Landessozialgericht Baden-Württemberg, L 6 SB 3843/19, 18.03.2021

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