Sozialrecht B 1 KR 33/21 R - Hohe Anforderungen an die Feststellung des Potentials innovativer Behandlungsalternativen

  • Der 1. Senat des Bundessozialgerichts hat präzisiert (Urteil vom 13. Dezember 2022, Aktenzeichen B 1 KR 33/21 R), wann bislang nicht anerkannte innovative Behandlungsmethoden in einem Krankenhaus zur Anwendung kommen können und unter welchen Voraussetzungen eine innovative Behandlungsmethode das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative besitzt.

    Dies ist dann der Fall, wenn mehrere Voraussetzungen erfüllt sind: Nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und nach dem Wirkprinzip darf nicht von ihrer Schädlichkeit oder Unwirksamkeit auszugehen sein. Es muss zudem die Aussicht bestehen, dass die innovative Behandlungsmethode im Vergleich zu bestehenden Standardmethoden effektiver ist. Weiter muss die Aussicht bestehen, dass eine bestehende Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum geschlossen werden kann. Schließlich muss eine Gesamtabwägung der potentiellen Vor- und Nachteile zugunsten der innovativen Behandlungsmethode ausfallen.


    Noch nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethoden können im Krankenhaus auch dann zur Anwendung kommen, wenn der zur Methodenbewertung berufene Gemeinsame Bundesausschuss noch keine Entscheidung über das Potential einer innovativen Behandlungsmethode getroffen hat. In diesen Fällen obliegt die Entscheidung darüber, ob Potential gegeben ist, dem Krankenhaus und der jeweiligen Krankenkasse als Kostenträger. Diese Entscheidung ist gerichtlich umfassend überprüfbar. Dabei haben die Gerichte gegebenenfalls entsprechende Ermittlungen durchzuführen.


    Der Senat konnte aufgrund fehlender Feststellungen nicht abschließend entscheiden, ob die vorliegend im Streit stehende innovative Behandlungsmethode – die Implantation von Coils zur Behandlung eines Lungenemphysems – im Zeitpunkt der Behandlung ein derartiges Potential aufwies und ob alle anderen Voraussetzungen des Vergütungsanspruchs des klagenden Krankenhauses vorlagen. Er hat den Rechtsstreit daher an das Landessozialgericht zurückverwiesen.


    Aus dem Fall:


    R. GmbH ./. AOK Rheinland/Hamburg


    Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlungen.


    Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) Versicherte litt an einer schwerstgradigen chronisch-obstruktiven Lungenerkrankung mit funktional relevantem Lungenemphysem sowie respiratorischer hypoxischer Insuffizienz unter körperlicher Belastung. In der Zeit vom 11. bis 16.4.2016 und vom 30.5. bis 4.6.2016 wurde er im Krankenhaus der Klägerin stationär behandelt. Das Krankenhaus implantierte ihm dabei jeweils endoskopisch Spiralen (sog. Coils), um die Emphysemblasen zu reduzieren. Es berechnete der KK dafür 15 226,01 Euro und 16 126,91 Euro. Die KK zahlte aufgrund entsprechender Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nur 3095,74 Euro für die Behandlung vom 30.5. bis 4.6.2016. Die Behandlungsmethode habe nicht dem Qualitätsgebot entsprochen.


    Das SG hat die KK zur Zahlung des Restbetrages verurteilt. Im Berufungsverfahren hat die KK ein Teilanerkenntnis für die Behandlung des Versicherten im Zeitraum 11.4. bis 16.4.2016 in Höhe von 5248,38 Euro abgegeben, das das Krankenhaus angenommen hat. Die darüber hinausgehende Klage hat das LSG abgewiesen. Im Behandlungszeitraum habe die Implantation von Coils nicht dem allgemeinen Qualitätsgebot entsprochen. Zwar möge die Methode das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative geboten haben, aus § 137c Abs. 3 SGB V ergebe sich aber kein abgesenkter Qualitätsmaßstab. Eine Vergütung komme auch nicht nach § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V in Betracht, da keine belastbaren Anhaltspunkte für eine notstandsähnliche Situation bestanden hätten und in Form der chirurgischen Lungenvolumenreduktion noch eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung gestanden habe.


    Mit seiner Revision rügt das Krankenhaus die Verletzung von § 137c Abs. 3 SGB V.


    Terminsbericht:


    Der Senat hat die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.


    Ein Vergütungsanspruch des Krankenhauses setzt voraus, dass die Krankenhausbehandlung dem Qualitätsgebot entsprach, was nach den Feststellungen des LSG im Behandlungszeitpunkt nicht der Fall war. Nach der erst nach der Entscheidung des LSG ergangenen Rechtsprechung des Senats kommt hier ein Vergütungsanspruch für eine Potentialleistung nach § 137c Abs. 3 SGB V in Betracht. Diese Vorschrift schränkt das allgemeine Qualitätsgebot partiell ein (Urteil vom 25.3.2021 – B 1 KR 25/20 R).


    Hat der Gemeinsame Bundesausschuss - wie vorliegend - noch keine Entscheidung getroffen, ob einer Methode das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative zukommt, obliegt sie dem Krankenhaus und der jeweiligen Krankenkasse als Kostenträger. Diese Entscheidung ist gerichtlich umfassend überprüfbar. Ein Einschätzungsspielraum des Krankenhauses besteht nicht. Ein Potential kann im Rahmen gerichtlicher Überprüfung festgestellt werden, wenn nach Ermittlung des Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse und des Wirkprinzips nicht von der Schädlichkeit oder Unwirksamkeit der Methode auszugehen ist, sowohl die Aussicht auf eine effektivere Behandlung im Vergleich zu bestehenden Standardmethoden als auch die Aussicht auf Schließung der bestehenden Evidenzlücke durch eine einzige Studie in einem begrenzten Zeitraum auf hinreichend aussagekräftige Erkenntnisse gestützt werden kann und eine Gesamtabwägung der potentiellen Vor- und Nachteile der Methode mit denjenigen vorhandener Standardmethoden positiv ausfällt.


    Das LSG muss zunächst feststellen, ob für die Behandlung des Versicherten noch eine Standardtherapie verfügbar war. Nicht nachzuvollziehen ist insofern, wie die Vorinstanz - allerdings zu der Frage, ob ein Anspruch nach § 2 Abs. 1a Satz 1 SGB V besteht - zu der Überzeugung gelangt ist, mit der Teilresektion der Lunge habe noch eine Standardbehandlung zur Verfügung gestanden. Wenn eine Standardmethode offenkundig einen höchst invasiven Eingriff erfordert, muss sie nicht nur abstrakt, sondern auch konkret für die Behandlung des Versicherten infrage kommen. Das LSG muss ferner feststellen, ob die Behandlung das Potential einer erforderlichen Behandlungsalternative aufwies.


    BSG-Urteil vom 13. Dez 2022 - B 1 KR 33/21 R - BSG PM 45/2022 und BSG PM 48/2022

    Vorinstanzen:

    Sozialgericht Aachen - S 15 KR 226/17, 18.10.2018

    Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 KR 743/18, 16.06.2020

ZAP-Hosting Gameserver für Minecraft