Im Dezember 2021 bestellte die Finanzaufsichtskommission in Polen einen vorläufigen Verwalter1 für die Getin Noble Bank, um die Lage dieser Bank zu verbessern. Mit dieser Funktion wurde der polnische Bankgarantiefonds (BFG) betraut. Nach nationalem Recht besteht die Aufgabe des BFG in erster Linie in der Ausübung der Funktionen der Bankeinlagensicherung und der Abwicklung.
In Anbetracht des Risikos einer Zahlungsunfähigkeit der Getin Noble Bank traf der BFG als Abwicklungsbehörde im September 2022 die Entscheidung zur Einleitung einer Krisenmanagementmaßnahme, deren Zweck im Wesentlichen darin bestand, diese Bank einem Abwicklungsverfahren zu unterwerfen2. Der Aufsichtsrat der Getin Noble Bank erhob gegen diese Entscheidung Klage vor dem zuständigen polnischen Verwaltungsgericht. Die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung wird auch von weiteren Personen angefochten, u. a. von den Aktionären der Bank, den Inhabern von Anleihen dieser Bank sowie von Privatpersonen, die mit ihr Darlehensverträge abgeschlossen haben, deren Gültigkeit wegen des Vorliegens möglicherweise missbräuchlicher Klauseln bestritten wurde. Insgesamt wurden mehr als 8 000 Klagen eingereicht, was der durchschnittlichen Zahl der bei diesem Gericht erhobenen Klagen während eines Zeitraums von zwei Jahren entspricht.
Im Rahmen dieses Rechtsstreits wandte sich das Verwaltungsgericht an den Gerichtshof und äußerte Zweifel in zweierlei Hinsicht, und zwar zum einen in verfahrensrechtlicher und zum anderen in materiell-rechtlicher Hinsicht.
Erstens weist es darauf hin, dass es nach einer Verfahrensbestimmung verpflichtet sei, alle Klagen zu gemeinsamer Prüfung und zu gemeinsamer Entscheidung zu verbinden.
Deswegen sei es äußerst schwierig, wenn nicht sogarunmöglich, innerhalb einer angemessenen Frist ein Urteil zu erlassen3. Vor diesem Hintergrund wirft es die Frage auf, ob das Recht zur Beschreitung des Verwaltungsrechtswegs, das sämtlichen von der streitigen Entscheidung betroffenen Personen zustehe, unverzichtbar sei, um die ihnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte zu schützen4.
Hierzu befragt, stellt der Gerichtshof fest, dass eine Entscheidung zum Erlass einer Krisenmanagementmaßnahme in Bezug auf eine Bank eine beträchtliche Zahl von Personen betreffen und somit zu zahlreichen Klagen führen kann. Deren Verbindung birgt die Gefahr einer Beeinträchtigung des Rechts einer jeden Person, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
Es ist Sache des nationalen Gerichts, erforderlichenfalls die Bestimmungen unangewendet zu lassen, die es ihm verbieten würden, die Verbindung der in Rede stehenden Klagen aufzuheben. Außerdem muss es in der Lage sein, die Maßnahmen zu ergreifen, die es ihm ermöglichen, den Rechtsstreit innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden und gleichzeitig die Gefahr einander widersprechender Urteile unterschiedlicher Richter zu vermeiden.
Der Gerichtshof stellt außerdem fest, dass das Unionsrecht5 allen von der in Rede stehenden Entscheidung betroffenen Personen das Recht verleiht, diese Entscheidung gerichtlich anzufechten. Ihnen darf nicht das Recht genommen werden, ihre eigenen Klagegründe zur Stützung ihrer Klage in einer kontradiktorischen Erörterung geltend zu machen. Die inhaltliche Prüfung allein der vom Aufsichtsrat der Bank erhobenen Klage und der Umstand, dass ein Urteil, mit dem über diese Klage entschieden wird, Wirkungen gegenüber jedermann haben wird6, lässt nicht den Schluss zu, dass damit das Recht jeder anderen Person auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt wäre.
Zweitens möchte das nationale Gericht in Bezug auf den Erlass der streitigen Entscheidung wissen, welche Anforderungen an die Unabhängigkeit der Abwicklungsbehörde zu stellen sind, wenn sie auch die Funktion eines vorläufigen Verwalters der betreffenden Bank ausgeübt hat und außerdem mit der Funktion der Bankeinlagensicherung betraut ist.
Der Gerichtshof stellt fest, dass das Unionsrecht für den Fall der Ausübung mehrerer Funktionen durch eine nationale Abwicklungsbehörde vorsieht, dass bei der Wahrnehmung des Abwicklungsauftrags die Entscheidungsfindung dieser Behörde vor jeglicher internen Einflussnahme zu schützen ist, die außerhalb des Abwicklungsauftrags liegt. In Bezug auf diese sonstigen Funktionen schreibt das Unionsrecht vor, strukturbezogene Regelungen zu erlassen, um die operative Unabhängigkeit der Abwicklungsbehörde sicherzustellen und Interessenkonflikte zu vermeiden.
Wenn interne schriftliche Vorschriften zur Gewährleistung dieser Unabhängigkeit fehlen, kann sich die Einhaltung dieser Anforderung aus für diesen Zweck hinreichenden organisatorischen und sonstigen Maßnahmen ergeben. Ferner führt die fehlende Veröffentlichung solcher Vorschriften nicht automatisch zur Ungültigkeit der Abwicklungsentscheidung. Es obliegt jedoch der Abwicklungsbehörde, nachzuweisen, dass diese Vorschriften beachtet wurden und infolgedessen ihre Entscheidung ausschließlich zur Erreichung von Abwicklungszielen7 getroffen wurde.
EuGH-Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache C-118/23 | Getin Holding u. a. | 12. Dez 2024 | EuGH PM 197/2024
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1 Im Sinne von Art. 29 der Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Mai 2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen.
2 Durch die Abwicklung einer ausfallenden Bank können insbesondere die Kontinuität ihrer Geschäftsbereiche oder deren Veräußerung an einen Erwerber organisiert werden und gleichzeitig so weit wie möglich die Auswirkungen des Zahlungsausfalls auf die Wirtschaft und das Finanzsystem begrenzt werden.
3 Das Recht jeder Person darauf, dass ihre Sache innerhalb angemessener Frist verhandelt wird, ist Teil des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, das in Art. 47 GRCh (der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) verankert ist.
4 Insoweit führt das Verwaltungsgericht aus, dass die polnischen Verwaltungsgerichte eine umfassende Rechtmäßigkeitsprüfung der angefochtenen Entscheidung ausübten, ohne an die in der Klageschrift angeführten Klagegründe, die Klageanträge und die Rechtsgrundlage gebunden zu sein. Das rechtskräftige Urteil entfalte eine Wirkung „erga omnes“, das heißt, dass jede Person, die von dieser Entscheidung betroffen ist, sich auf sie stützen könne, unabhängig davon, ob sie einen Rechtsbehelf eingelegt habe, um die Rechtmäßigkeit der Entscheidung anzufechten.
5 Art.85 Abs. 3 der Richtlinie 2014/59.
6 Sogenannte Wirkung erga omnes, siehe Fußnote 4.
7 Diese Ziele sind in Art. 31 der Richtlinie 2014/59 festgelegt.