Im April 2019 änderte der Unionsgesetzgeber die „Gasrichtlinie“ durch den Erlass einer Richtlinie (im Folgenden: Änderungsrichtlinie)1, um sicherzustellen, dass die für Gasfernleitungen zwischen zwei oder mehr Mitgliedstaaten geltenden Vorschriften auch für Gasfernleitungen in der Union aus Drittländern und in Drittländer gelten. Diese Regeln sehen u. a. eine wirksame Trennung der Fernleitungsinfrastrukturen von den Gewinnungs- und Versorgungsinteressen sowie den Zugang Dritter zu den Fernleitungsnetzen vor. Für Gasfernleitungen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittland, die vor dem Inkrafttreten der Änderungsrichtlinie, d. h. vor dem 23. Mai 2019, fertiggestellt wurden, sieht die Änderungsrichtlinie jedoch vor, dass der Mitgliedstaat, in dem der erste Kopplungspunkt einer solchen Gasfernleitung mit dem Netz dieses Mitgliedstaats gelegen ist, beschließen kann, in Bezug auf die Abschnitte einer solchen in seinem Hoheitsgebiet und Küstenmeer befindlichen Gasfernleitung von den oben genannten Vorschriften abzuweichen.
Die Aufgabe der Nord Stream 2 AG, einer Schweizer Tochtergesellschaft von Gazprom, besteht in der Planung, dem Bau und dem Betrieb der Gasfernleitung Nord Stream 2. Sie hat die Änderungsrichtlinie vor dem Gericht der Europäischen Union angefochten, das die Klage mit Beschluss vom 20. Mai 20202 als unzulässig abgewiesen hat. In der Folge hat die Nord Stream 2 AG ein Rechtsmittel gegen den Beschluss des Gerichts beim Gerichtshof eingelegt.
Mit Urteil vom 12. Juli 20223 hat der Gerichtshof entschieden, dass die Klage der Nord Stream 2 AG teilweise zulässig ist: Er hat den Beschluss des Gerichts im Wesentlichen aufgehoben und die Rechtssache zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage an das Gericht zurückverwiesen.
Das Gericht weist die Klage ab.
Es erklärt, dass die Nord Stream 2 AG ihre Investitionen in ihre Gasfernleitung während eines Zeitraums vorgenommen und fortgesetzt hat, zu dem sie über keine Zusicherung dafür verfügte, dass das Unionsrecht auf ihre Gasfernleitung unanwendbar bleibt. Im Gegenteil, die Nord Stream 2 AG konnte vorhersehen, dass die Unionsorgane und mehrere Mitgliedstaaten, die sich seit Langem dafür ausgesprochen hatten, ihre Befugnisse nutzen würden, um die Vorschriften des Erdgasbinnenmarkts auf Gasfernleitungen aus Drittländern wie die Gasfernleitung Nord Stream 2 zu erstrecken.
Darüber hinaus konnte die Nord Stream 2 AG angesichts des Fortschritts der Arbeiten an ihrer Gasfernleitung zum Zeitpunkt der Vorlage des Vorschlags für die Änderungsrichtlinie durch die Kommission im November 2017 vorhersehen, dass sie die geplante Ausnahme für Gasfernleitungen, die vor dem Inkrafttreten der künftigen Änderungsrichtlinie fertiggestellt wurden, nicht in Anspruch nehmen können wird.
Nach Ansicht des Gerichts hindert der Umstand, dass die Nord Stream 2 AG diese Ausnahme nicht in Anspruch nehmen kann, das Unternehmen nicht daran, die Gasfernleitung Nord Stream 2 auf wirtschaftlich zumutbare Weise zu betreiben und eine angemessene Rendite aus ihren Investitionen zu erhalten.
Folglich hat der Unionsgesetzgeber nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit oder den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, als er festlegte, dass nur für Gasfernleitungen zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittland, die vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellt wurden, die betreffende Ausnahme in Anspruch genommen werden kann.
Sodann ist das Gericht der Auffassung, dass die betreffende Ausnahme nicht gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.
Vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellte Gasfernleitungen und solche, die an diesem Termin nicht fertiggestellt waren, wie die Gasfernleitung Nord Stream 2, befinden sich nämlich nicht in einer vergleichbaren Situation. Somit führt der Umstand, dass für die Gasfernleitung Nord Stream 2 die betreffende Ausnahme nicht in Anspruch genommen werden kann, dazu, dass unterschiedliche Sachverhalte unterschiedlich behandelt werden. Zudem wäre eine unterschiedliche Behandlung selbst dann gerechtfertigt, wenn die Gasfernleitung Nord Stream 2 sich in einer Situation befände, die mit derjenigen von vor dem 23. Mai 2019 fertiggestellten Gasfernleitungen vergleichbar wäre.
Schließlich ist in Anbetracht des Ermessens, über das der Unionsgesetzgeber verfügt, der Umstand, dass die Gasfernleitung Nord Stream 2 der Erstreckung der Binnenmarktvorschriften nicht entgehen kann, nicht offensichtlich ungeeignet, um die mit der Änderungsrichtlinie verfolgten Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber hat somit nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.
Zu diesem Thema stellt das Gericht insbesondere fest, dass die Anwendung der Binnenmarktvorschriften auf den Abschnitt der im Hoheitsgebiet oder Küstenmeer eines Mitgliedstaats befindlichen Gasfernleitung Nord Stream 2 u. a. geeignet ist, Wettbewerbsverzerrungen und negative Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit zu vermeiden.
Außerdem sind die der Nord Stream 2 AG auferlegten Belastungen in Anbetracht der dem Gerichtvorliegenden Unterlagen offensichtlich nicht unverhältnismäßig im Vergleich zur Wichtigkeit der vom Gesetzgeber verfolgten Ziele.
EuGH-Urteil des Gerichts in der Rechtssache T-526/19 RENV | Nord Stream 2 / Parlament und Rat | 27. Nov 2024 | EuGH PM 195/2024
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1 Richtlinie (EU) 2019/692 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. April 2019 zur Änderung der Richtlinie 2009/73 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt.
2 Beschluss vom 20. Mai 2020, Nord Stream 2/Parlament und Rat, T-526/19 (vgl. auch Pressemitteilung EuGH PM 62/2020).
3 Urteil vom 12. Juli 2022, Nord Stream 2/Parlament und Rat, C-348/20 P (vgl. auch Pressemitteilung EuGH PM 122/2022).